Gerardo Aparicio – Portrait
Die magisch-verkehrte Welt des Gerardo Aparicio
Kurz vor Weihnachten 2010 – ich lebte zu der Zeit in Paris – bekam ich einen Anruf von Gerardo Aparicio. Er bat mich, den französischen Künstler Pierre Michelot aufzusuchen, da dieser angeblich im Besitz einiger seiner Arbeiten sei.
Odysee
1978 stellte der Madrider Maler Gerardo Aparicio für 4 Wochen sein „Wörterbuch der Tyrannei“ in der Pariser Galerie von Pierre Michelot aus. Michelots Arbeiten waren in dieser Zeit in Madrid zu sehen. Den Transport ihrer Exponate organisierten die beiden jeweils selber und reisten per Bahn in die respektiven Städte. Getroffen haben sie sich nie!
Kurz nach Francos Tod war für Aparicio diese Ausstellung in Frankreich auch symbolisch sehr wichtig. Dabei handelte es sich um exquisite DIN A 3 Holzkisten gefüllt mit schwarz-weiß und von Hand kolorierten Radierungen in verschiedenen Größen.
Aparicio kehrt schon nach ein paar Tagen nach Madrid zurück; seine Werke blieben. Und da Michelots Arbeiten beim Rücktransport von Madrid nach Paris verloren gingen, vertraute der Pariser Galerist kurzerhand Michelot die verbleibenden Radierungen von Aparicio an.
2010, also 32 Jahre später, konnte der französische Konstruktivist seinen spanischen Malerkollegen schließlich kontaktieren, um ihn über die verloren geglaubten Arbeiten, die seit mehr als 30 Jahren auf ihre Rückkehr nach Madrid warteten, zu informieren.
Aufgeregt und sehr gespannt wer und was mich da genau erwarten würde, machte ich mich am 23. Dezember 2010 auf nach Montmartre (dort hat Michelot sein Atelier). So ungefähr musste sich Kahnweiler gefühlt haben, als er 1907 den Berg zum Bateau Lavoir bestieg, dachte ich ganz romantisch bei mir. Aufgefallen ist mir, dass der Konstruktivist Michelot eine beeindruckende Sammlung von alten Werkzeugen an den Wänden hängen hatte, die perfekt zu Aparicios symbolisch-surrealen Arbeiten passten. Er hat mir die Geschichte dann erzählt und sagte fast entschuldigend, dass er anfangs keine Möglichkeit gefunden hätte, Aparicio zu kontaktieren und später die Angelegenheit in Vergessenheit geraten wäre. Seither reiften die Radierungen ganz weit oben in einem Schrank.
Zur meiner und Aparicios großen Freude befand sich in der großen, unhandlichen und leicht angegilbten Zeichenmappe aus hartem grün-gesprenkelten Karton, die er mir aushändigte, auch noch eine von den mit Radierungen gefüllten Holzkisten, desweiteren an die 40 einzelne Radierungen in verschiedenen Größen, koloriert und schwarz-weiß. Man hätte direkt damit eine Ausstellung organisieren können. Faszinierend, diese Arbeiten, die ich nicht kannte. Als ich Aparicio 1984 in Madrid kennen lernte, hat er – mit einem künstlerischen Pragmatismus – diese Epoche als verloren abgeschrieben, es gab nicht mal Fotos von den verlorenen Schätzen. Nach der Ewigkeit von 34 Jahren – selbst Odysseus irrte nur 20 Jahre durch die Meere – kehrte dieser Tresor also wieder zu ihm zurück und ich war für kurze Zeit Besitzerin dieser Preziosen, die aber erst mal mit mir nach Rom umziehen mussten, bevor sie schließlich (schweren Herzens meinerseits) wieder an den Besitzer zurück gingen!


Surrealist – Symbolist – Expressionist:
Diese Begriffe sind ebenso wenig zu trennen, wie man Aparicios Stil festlegen kann. Aparicio ist ein Zeitreisender. Er ist sozusagen ein « Surrexbolist » und passt ebenso gut in die Vergangenheit wie in die Zukunft. « Dem erbärmlichen Geist ist es zu eigen, stets nur Klischees und niemals eigene Einflüsse zu verwenden » hat angeblich um 1500 der flämische Maler Hieronymus Bosch gesagt. In Boschs Lebenswerk streiten sich diese drei Stile ebenfalls. Faszinierend-erschreckende Fabelwesen und dämonische Gestade, menschenähnliche Kreaturen mit Tierköpfen oder ohne Kopf. Ungeheuer und Bestien geben sich ein Stelldichein und es riecht nach Verdammnis. Allerdings sind Aparicios Tiere Mäuse , die dann eher mit Schüchternheit und kleineren Sorgen assoziiert werden, oder Schnecken, die zwar Ekel erregen aber auch Verletzbarkeit, Langsamkeit und Zurückgezogenheit symbolisieren.
Aparicio ist ein unverwechselbarer und origineller Individualist, ein „positiver“ Grübler, ein Skeptiker und Schwarzseher. Das Ephemere, das Instabile, das Komische (manchmal), die Magie und der Tod sind seine Themen. Epidemien und Katastrophen assoziiert man mit seinen Arbeiten, in ihnen ist Raum für Zeichnung, Farbe, Poesie, Zauber, Magie, Alchemie, Phantasie und Semantik. Grelle und mächtige Farben wie Rot stehen im krassen Gegensatz zu seiner makabren Thematik. Die Auseinandersetzung mit seinen geheimnisumwitterten Protagonisten ist dermaßen, dass sie – fast wie bei einem Fortsetzungsroman – ein Eigenleben entwickeln. Schön sind sie allemal!
« Alma Perdida » (verlorene Seele), « mesa doliente » (schmerzender Tisch), “Resurreción“ (Wiedergeburt), „muerte española“ (spanischer Tod) oder „Palabras“ (Wörter) heißen seine Arbeiten. „Palabras“ ist ein „Turbo“-Trichter aus dem Nägel (Wörter) fliegen, andere sehen auch schon mal wie manuelle Rührbesen aus. Wohingehen die Flamen Bosch oder Bruegels den Personen schon mal einen Trichter über den Kopf stülpten, was damals für Gemeinheit und Gottabgewandtheit stand. Dann „Andante“: Auf den ersten Blick sehen wir auf ein keckes Mädchen, das seinen Kopf in die Erde oder ins Wasser steckt. Beim näheren Hinsehen allerdings erkennen wir mit lustigem Grauen, dass sie gerade von einer karnivoren Glockenblume in Form eines Trichters verschlungen wird.



Von Hand kolorierte Radierungen und luxuriöse Mischtechnik-Collagen gesellten sich in den 80er Jahren zu den kleinformatigen Arbeiten und sinnlichen Zeichnungen der 70er und bereiten den Weg für die Stiländerung ab 1990 – jedenfalls was Format und Größe seiner Bilder betrifft, vor. Aparicio bleibt seiner ironisch-spöttischen und zynischen Themenwahl zwar treu, malt hingegen nun großformatige Ölbilder. Das Konzept der Dreidimensionalität lässt ihn aber nicht los. Und während früher seine Flugmodellbauten (maquetas voladoras) aus Holz waren, so sind sie heute aus Pappe und Metall. Er ist ein unerschöpflicher Born an Eingebungen und Ideen und überrascht immer wieder mit seinen unerwarteten und originellen (konsequenten) Geistesblitzen.
Vielleicht holt er sich die Einfälle aber auch aus dem Biologielabor. Die Formationen seiner Figuren erinnern an die Darstellung eines seltenen Bakteriums, oder eines raren vielleicht gefährlichen Virus. Aber gleich wird wieder ein Spielzeug daraus, je nach dem von welcher Seite und in welcher Stimmung wir seine Werke besichtigen. Dieses irrationale Chaos und die ingeniöse Fähigkeit – mit einem Augenaufschlag – den spielerischen Vordergrund zum beunruhigenden Hintergrund zu verwandeln, ist umwerfend. Schmerz und Alptraum-Fieber rufen seine metamorphierenden Folterwerkzeuge hervor, bevor sie zum Nähzeug werden, das wiederum in einer Küche auf dem Mond ein Hemd sucht und dadurch eine beunruhigende Dramatik bekommt. Hier kann dann das « fröhlich-Bunte » beim Tyranneiwörterbuch auch nicht mehr helfen, die Panik zu verbergen. Kafkaeske Mumien entschnüren sich wie Verwandlungskünstler und Gregor Samsa steht im Raum.

Symbolismus bedeutet, frei nach Jean Moréas, dass die Eigenschaft der symbolischen Kunst darin besteht, eine Idee niemals begrifflich zu fixieren oder direkt auszusprechen (Symbolisches Manifest von 1886). Aparicio gibt zwar seinen Werken oft Titel oder versteckt Botschaften in ihnen, die aber dann, um verstanden zu werden, erstmal auf Entschlüsselung drängen. Erst dann begreifen wir, welchen gesellschaftlichen Zwängen er ausbrechen wollte und welche verbotene Handlung er dokumentierte. So ähnlich wie es Malern in der Gotik oder der Renaissance erlaubt war, unter dem Deckmantel der Mythologie oder Religion, Heilige und Göttinnen so zu malen, wie Gott sie geschaffen hat. Der Neo-Symbolismus von Aparicio ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts verschlüsselt vielleicht auch politische auf jeden Fall aber sozialkritische, moralsatirische und atheistische Botschaften und schafft eine phantastische Gegenwelt zum himmelblau prosaischen und computer-gesteuerten Umfeld. Man bedenke, dass Aparicio die ersten 15 Jahre seines Künstlerdaseins, seine Kindheit und Jugend unter der Franco Diktatur verbracht hat.

„Wenn die Vernunft einschläft, dann erwachen die Dämonen“ hat der spanische Maler Francisco de Goya gesagt. Der große Goya ist auch sonst sein Vorbild, vor allem seine „pintura negra“ oder die „Desastres“ tangieren ihn. Aus diesen sprudeln ebenso grausame Höllenschaften. Der aufgelöste und quirlige Figurentrubel lässt unvermeidlich an Aparicios Vulkan-Serie denken und kommt irgendwann auf den Coetzee-dogman. Die Bestien krabbeln in närrischer Possierlichkeit aus der Erde, entfliehen feuerspeienden Bergen und segeln durch die Lüfte und es ist nie jemand zur Stelle, um diese Chimären aufzuhalten. Würde man an die 100 von seinen Radierungen zu einer Collage zusammenfügen, käme man wahrscheinlich auf einen genialen unentdeckten Bruegel wie z.B. das „Bild der niederländischen Sprichwörter“ – aber subtiler und eleganter.
Jahrelang schwamm er sozusagen gegen den Strom der Flächenmalerei, des Konstruktivismus, der Pop-Ikonen oder der Videokunst. Mehr noch, Aparicio fügt seinem surrealen Symbolismus eine südamerikanische Magie à la Garcia Marquez hinzu und das macht ihn einzigartig!
Wunderkammer Atelier
Horror Vacui herrscht dort. Fünf Stockwerke unter seiner Wohnung mitten im schönsten Madrid – im sogenannten Zwischengeschoss – ohne natürliches Licht aber sehr groß führt er uns in sein Kuriositätenkabinett. Verwirrt und berauscht treten wir ein und schlängeln uns an tonnenschweren Walzen und Druckerpressen, Papiermuster aller Art, Fliese, Leinwände, Papyrus-Fetzen, Farben, Stifte, Pinsel, Holz, Rahmen entlang. Witzige Papierschnitzel für Collagen, Fotos und Ausstellungshinweise hängen an den Wänden. Es würde bei ihm auch so aussehen, wenn sein Atelier 1000 qm groß wäre, denke ich. Dann führt er uns herum und erzählt das, was wir noch nicht sehen können auf den fertigen, angefangenen, fast-fertigen Werken. Skulpturen in Glaskästen und auf Tischen. Faszinierend ist das!
Maler – Kupferstecher – Bildhauer
Hier in seinem Atelier offenbart er sich als Rundumkünstler und wir begreifen ihn. Da gibt es den eindimensionalen Zeichner und Maler der Flies oder Papyrus benutzt und die kleinen Arbeiten in von Hand angefertigten attraktiven Holzkisten unterbringt; den zweidimensionalen Kupferstecher, sein Steckenpferd aus der Jugend, das er nie zurückgelassen hat – ganz nach Dürer oder Rembrandt und nur durch seine Frau Nati zu übertreffen – und schließlich den dreidimensionalen Skulpteur, wobei das Wort nicht so ganz passt, da er weder Stein noch Marmor verarbeitet, sondern Holz, Pappe, Metall. Und waren es früher Flugmodelle, eines davon hängt permanent in seinem Wohnzimmer, sind es jetzt Brutkästen oder andere fantasievolle Artefakte.
„Casa Madre“ ist ein primordiales konzeptuell-philosophisches Werk (Holz und Glas). Gerardo definiert den Begriff „Haus“ und welche Gefühle darin freigesetzt werden (Leid, Freud, Licht, Schatten), geht weiter über die Nacht, die Wärme, das Fassbare, die Gespenster bis zum Kind. Der erste Schlüssel öffnet nur das äußere Gehäuse, das Rätsel im Inneren dieses Zufluchtsortes seiner verkehrten Welt entzieht sich noch unserem Verstehen. La Casa (das Haus) ist für ihn sowie ein zentrales Thema. Die beiden Schrägen, die ein Dach ausmachen tauchen als gehende Beine oder sträubende Haare immer wieder vor allem in den Radierungen auf.

1943 ist Gerardo Aparicio in Madrid geboren und dort hat er auch Kunst studiert. Bevor er sich mit der klassischen Malerei befasste und vor Eintritt in die Akademie der Schönen Künste in Madrid hat er sich schon für diverse Drucktechniken interessiert und sich ein unheimliches Wissen darüber angeeignet. Dieses Interesse sollte seine Arbeit sehr prägen und ihn sein ganzes Leben nicht mehr loslassen. Emanuel Borja hat in seinem ausführlichen Artikel „Huella y fiebre en la obra de Gerardo Aparicio“ (Abdruck und Fieber im Werk von Gerardo Aparicio) eine Theorie darüber entwickelt. Er hat auch den Begriff „Knollensyndrom“ erfunden.
Sehr jung noch und ganz am Anfang seiner Künstlerlaufbahn etablierte er sich in der Madrider Kunstszene und bereits 1965 stellte er zum ersten Mal in der Madrider Galerie Seiquer aus. Später wechselt er dann zur Galerie Egam und bleibt ihr über 30 Jahre lang treu.
Gerardo ist leidenschaftlich Spanier, wobei die Betonung oft auf „leiden“ liegt. Er ist ein Poet, dem jegliche aktive Aggression fehlt: Dichtung und Literatur sind fast so wichtig wie Farben und Materialien für ihn! Er liebt sein Spanien; gerade aus diesem Grund ist er der größte Kritiker seines Landes den ich kenne. Die Hispanidad ist ein wichtiges Thema für ihn. Im Werk Muerte española vereint er die Meninas mit dem Stierkampf.

Aber was bewegt diesen einsamen virtuellen Reisenden (denn sein Madrider Schneckenhaus verlässt er sehr ungern), was steuert ihn, diese faszinierenden emotionellen codierten Arbeiten zu schaffen? Wo entdeckt er die Zutaten für diese explosiven Cocktails?
Reflexion, Passion, Aberglaube, Melancholie und Skeptizismus sowie Kritikfähigkeit. Gerardo erleidet seine Werke. Er schafft keine „Kaviar-Kultur“, die man sich – am besten farblich abgestimmt mit den Tapeten und dem Sofa – über dieses hängt. Wer seine Bilder bei sich zu Hause beherbergt, der muss sich mit ihnen auseinander setzen. Motiv und Gestaltung sind gleichgewichtig! Dieser hitzige Kritiker der Welt, von Spanien, von Madrid und von sich selber gewährt den Betrachtern seiner Bilder den kurzen Eintritt in seine umgekehrte Welt. Und wenn man den ersten lieblichen Schock überwunden hat, erkennt man plötzlich die Auseinandersetzung mit Konsum, Tod, Leid und manchmal auch Humor und Glück.

Christa Blenk
Wieder mal ein grossartiger Artikel von Christa Blenk ueber Gerardo Aparicio! Ich kann mich noch gut an diesen Kuenstler erinnern, den ich in den 80iger Jahren des 20.JH in Madrid kennengelernt hab. Die ueberaus gelungene Beschreibung seines Stils, mehr noch, seiner Lebensauffassung, seines Lebens und Leidens hat mich tief beeindruckt.
Mach weiter so!
Irmi Feldman