Salome in der Pariser Bastille Oper
Die trotzige, etwas unsichere Prinzessin Salome (Lise Davidson) trägt einen weißen Schulkittel, weiße Strümpfe und Boots so schwarz wie ihre Haare. Unschuldig, ja beinahe verletzlich sieht sie aus. Dann zündet sie sich eine Zigarette an, kommt zögernd eine steile Treppe herunter und schleicht sich an den streng bewachten Brunnen heran. Sie ist ein „Ich will-Kind“ und scheint nie ausgebremst worden zu sein. Über der Bühne befindet sich ein riesiger Glaskasten, in dem die Side Stories passieren. Dort amüsiert sich Herodes (Gerhard Siegel) mit seinen Untergebenen, den Juden und Nazarenern und anderen dekadenten Opportunisten und heruntergekommenen Schleimern. Salome nimmt an dieser Party nicht teil, sie wäre auch falsch angezogen in diesem Sodom und Gomorrha zwischen Glitzern, Schillern, billigen Fetzen, Tatoos und Laufmaschen. Es ist eine No-future-Gesellschaft, die sich verzweifelt mit Sexsklavinnen vergnügt. Sobald diese ausgedient haben, werden deren leblose Körper achtlos von anderen Bediensteten mühsam die Treppe heruntergetragen und dann von drei Männern in senfgelben Hazimut-Anzügen in einer Kalkgrube schwungvoll entsorgt. Der königliche Trotzkopf ist lästig und gewinnt. Der Wächter Narraboth (Pavol Breslik) lässt Jochanaan schließlich aus der Tiefe in einem Käfig hochfahren. Salome merkt nichts von dem Geschehen um sie herum, denn sie hat nur einen Wunsch und der heißt: Jochanaan (Johan Reuter). Sie nähert sich dem Käfig langsam, fast schüchtern und macht dem Propheten Komplimente, himmelt ihn an. Er mag das aber nicht hören. Während oben die bereits Verdammten feiern, verschmäht der Erlöser die liebestolle Salome. Jochanaan verflucht Kind und Mutter und will wieder in seine Zisterne zurück. Er wird das Spiel nicht überleben. So wollte es Oscar Wilde und so setzte es Richard Strauss um. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, quält sich Herodes gefolgt von seiner Frau Herodias (Ekaterina Gubanova) ebenfalls diese Treppe herunter. Er ruft nach seiner Stieftochter. Noch kann sie Herodes unanständigen Annäherungsversuchen entkommen. Tanzen soll sie für ihn. Sie lässt sich bitten und sagt erst dann zu, nachdem er ihr unter Eid zusagt ihr jeden Wunsch zu erfüllen.
Jetzt kommt normalerweise der « Tanz der sieben Schleier ». Das hat aber die Regisseurin Lydia Steier anders gesehen. Herodes fängt an, ihr nach und nach Kittel und Strümpfe auszuziehen. Als sie nur noch ein weißes Hemd anhat, übernimmt sie plötzlich die Dominanz im Spiel. Die Szene artet in einer Orgie und einer Massenvergewaltigung aus, und Herodes Gäste dürfen sich an ihr bedienen, während die Jünger Walzer tanzen. Anschließend ist Salomes kurzes weißes Hemd blutverschmiert, und sie beginnt mit der Umsetzung ihres Planes und verlangt den Kopf des Jochanaan. Unterstützt wird sie von ihrer Mutter, die schließlich einen Wächter ausschickt, um ihrer Tochter den Kopf zu bringen, während sich Herodes feige versteckt und das Schlimmste ahnt.
Rasender Applaus in der Bastille, vor allem für Lise Davidson. Sie ist der Star des Abends, und Paris liegt ihr nun auch zu Füßen. Sie singt und spielt diese Rolle zwischen Lolita und Isolde, klar, schnörkellos, entschlossen, und jeder Ton wirkt samtig, leicht. Wie ein Torpedo rast sie in die Höhe. Stimmlich nicht zu übertreffen. Man glaubt ihr den launischen Trotzkopf, die fordernde, zielstrebige Frau und die bereuende, von Rache besessene, Liebende. Bis zum Schluss ist sie hin- und hergerissen. Radio France nennt diese Salome bereits das Ereignis des Jahres.
Gerhard Siegel singt und spielt den fiesen Herodes sehr selbstbewusst und überzeugend. Auch Ekaterina Gubanova als üppige, lasterhafte Matrone mit entblößtem Busen als Herodes Frau bekommt viel Applaus. Johan Reuter ist ein solider und standhafter Jochanaan und bringt seinen Hohn zusammen mit den Holzbläsern Salome gegenüber ausgesprochen angewidert herüber. Pavol Breslik konnte in seiner Rolle als junger Narraboth glänzen.
Auch der Dirigent Mark Wigglesworth wird zurecht gefeiert. Er geht es ganz kühl, fast pragmatisch an und treibt nur wenn nötig durch die aufgeheizte Musik von Strauss. Er lässt die Musiker sehr gleichberechtigt auftreten. Als Salome sich nach der Rückkehr von Jochanaan auf der Zisterne vergnügt, peitscht er das Orchester an und lässt die Zügel los. Den « Tanz der sieben Schleier » geht er so plastisch an, dass man die transparenten Tücher trotzdem sehen kann.
Steiers kraftvolle Produktion ist eine Wiederaufnahme von 2022. Sie setzt das Geschehen in eine dystopisch-realistisch-sadistische Bunkerhölle mit Epidemien, Vergewaltigungen, Willkür, Voyeurismus, Inzest, Militärgewalt, Menschenhandel, Mord und Totschlag – Stoff für mindestens drei abendfüllende Krimis. Hat man den Schleiertanz vermisst? Nicht wirklich. Lise Davidson war so präsent und zog alles in ihren Bann. Irgendwie haben wir gar nicht gemerkt, dass sie nur so da stand und sich entkleiden ließ.
Christa Blenk