Buchgeflüster, Blutblumen und andere Katastrophen – Kurzgeschichten
Auszug aus der Geschichte « Von der Unmöglichkeit, den Gral zu finden » aus meinem Kurzgeschichtenbuch Band 1
13 – 21 – 34 – 55
Es war noch früh und die Nacht über hatte es geregnet.
Oscar schaute einmal hin, dann noch einmal und beim dritten Mal leierte er die Fibonacci-Folge leise herunter. Es war unglaublich, außerordentlich, phänomenal! Die einzigen fünf in dieser Straße geparkten Autos standen hintereinander, waren allesamt europäische Mittelklassewagen, weiß, neu, sauber und die Ziffern im Nummernschild der ersten vier Autos folgten in der richtigen Reihenfolge der Fibonacci-Serie.
Oscar war begeistert, soweit sich so ein Zustand mit seiner Persönlichkeit überhaupt vereinbaren ließ. Eine emotionale Erregung führte bei ihm zu einem heftigen Zucken der linken Augenbraue, gefolgt von dem Hauch eines Lächelns, das sich schüchtern um seinen schmalen Mund legte. Er schloss die Augen und wagte es nicht, auf das fünfte Autokennzeichen zu blicken. Sein Herz pochte, seine Augenbraue wurde zum Erdbeben. Als er dann schließlich doch mutig seinen Blick Richtung Autonummer schweifen ließ, verschwand das Zucken postwendend. Das fünfte, weiße Auto hatte zweimal die Zahl 8 im Kennzeichen. Jammerschade durchblitzte es seine Gedanken und dann verschwand auch das Lächeln. Nur eine Ziffer mehr hätte er gebraucht. Die nächste Zahl in der Fibonacci-Reihe war die 89. Oscar rechnete schnell nach, aber die 89 war definitiv die Folgezahl in der Serie. Wie konnte es dieser Fahrer bloß wagen, hier zu parken!
Oscar notierte akribisch Ort, Zeit und Witterung seiner Entdeckung in einem eigens dafür mitgebrachten Heft, auf dem in Großbuchstaben STRASSEN stand. Er schritt aufgeregt die kurze Uferstraße rauf und runter, während er das Für und Wider einer Kontaktaufnahme des fünften Autofahrers in Betracht zog. Sollte er auf den Besitzer warten? Oder vielleicht klingeln? Aber klingeln, das war so eine Sache, ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Da keimten ganz schnell böse Erinnerungen an die Zeit in ihm hoch, als er noch in dem von ihm so verhassten Außendienst tätig war. Jedes Mal, wenn er an einer Tür klingeln musste, wurde er von einer überwältigenden Panik erfasst und wäre am liebsten sofort wieder weggelaufen. Die Erleichterung, wenn niemand aufmachte, war unbezahlbar, denn wenn keiner zuhause war, konnte ihm auch nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen werden, was oft genug passiert war. Aber das war damals, in seiner unglücklichen Lebensphase. Heute war der eher menschenscheue Oscar ein glücklicher Mann, sobald er an Statistiken dachte und das tat er praktisch den ganzen Tag. Aber nun stand dieser scheinbar unbezwingbare Berg vor ihm!
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In meinem gerade fertig gestellten Buch sind 28 sehr unterschiedliche Geschichten zu lesen. Einige davon sind in unterschiedlichen Anthologien erschienen.
Band 2 erscheint Anfang 2025
Christa Blenk