Werkbetrachtung – Das Satie-Zimmer
Während die Künstlerkolonie im Pariser Stadtteil Montmartre die Moderne vorbereitete, die Farbpalette revolutionierte und bereit war, alte Zöpfe abzuschneiden und Poeten und Schriftsteller neue, unbekannte Wege suchten, experimentierte der Komponist Erik Satie (1866-1925) mit Tönen, reduzierte sie auf das Minimum und kündigte einen frühen Dadaismus an. Musiker, Künstler, Schriftsteller unterstützten sich gegenseitig. In dieses kreative Gewusel hinein verschlägt es auch den katalanischen Maler Santiago Rusiñol i Prats (1861-1931). 1891 malt Rusiñol den Musiker Erik Satie in seinem Zimmer.
Bedrückt und alleine sitzt Satie auf einem Schemel in der hinteren Ecke des kleinen Raumes, in der Nähe des Kamins. Holzscheite scheint es darin nicht zu geben, allerdings deutet der Künstler mit unruhigen Gelbtönen, die im Kamin wütend herum flackern, ein Feuer an. Wahrscheinlich hätte sich Satie zu diesem Zeitpunkt Kaminholz eh nicht leisten können. Das Zimmer wirkt ärmlich, ist aber ordentlich aufgeräumt. Die Wände um und hinter dem Musiker sind schmutzig weiß. Satie ist zu dem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Sein Gesicht ist blass, die Haare bereits schütter. Sein Kinnbart blond und spärlich. Er sitzt da in Socken. Die Schuhe des Komponisten liegen wie unachtsam hingeworfen ihm schräg gegenüber, halb unter dem Bettgestellt zwischen den Holzfüßen auf einem braun-beige gestreiften Bettvorleger. Auf dem Kaminsims liegen Bücher, darüber hängt ein goldgerahmter, ziemlich blinder Spiegel, der außer einem Schatten nichts verrät. Weder Kleider noch Geschirr deuten darauf hin, dass das Zimmer bewohnt ist. Es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, dass es sich um die Bleibe eines Musikers handelt. Weder Noten noch Instrumente sind zu sehen. Satie ist in sich zusammen gesunken, traurig, nachdenklich, melancholisch, zerrüttet. Die Hände liegen gefaltet zwischen seinen Oberschenkeln. Er ist komplett schwarz angezogen. Der alte Fußboden ist schmutzig, sieht unfertig aus und ruft nach einer Renovierung oder einem Anstrich. An der Wand neben dem Kamin, über dem Bett, hängen Zeichnungen und Entwürfe sowie das Plakat einer Bar, vielleicht « Le Chat Noir », Saties Stammcafé. Einsamkeit und Niedergeschlagenheit erreicht den Betrachter.
Das Bild entsteht kurz nach Saties unglücklicher, kurzer, melancholischer Beziehung zu der umtriebigen und freien Malerin Suzanne Valadon. Satie soll ihr angeblich gleich in der ersten Nacht ihres Kennenlernens einen Heiratsantrag gemacht haben. Sie hat ihn nicht angenommen.
Erik Satie verliert als Kind seine Mutter und später auch seine Großmutter und wächst bei seinem Vater und dessen zweiter Frau, einer Konzertpianistin, auf. Sie ist es auch, die ihn am Pariser Konservatorium einschreibt, das er aber motivationslos zwei Jahre später verlässt. 1887 zieht er ins Pariser Künstlerviertel Montmartre und findet eine Anstellung im Kabarett « Le Chat Noir ». Sein Gehalt wird meist flüssig, in Form von Alkohol, ausbezahlt, was Saties finanzielle Sorgen nicht verbessert.
Der spanische Maler, Schriftsteller und Journalist Santiago Rusiñol stammte aus einer wohlhabenden Familie von Textilhändlern. Mit 28 Jahren verließ er Frau und Kind, um sich in Paris voll der Kunst zu widmen. Geldsorgen hatte er nie und konnte das Leben eines gut betuchten Bohemiens führen. Er arbeitete teilweise mit der Barbizon Schule, ohne sich allerdings deren Maxime zu unterwerfen. Ein paar Jahre später, nach seiner Rückkehr nach Barcelona, gründete Rusiñol in Sitges einen Künstlertreffpunkt. Im Cafe Els Quatre-Gats traf er auch mit dem jungen Picasso zusammen. Von 1894 bis 1899 war der Maler dem Morphium verfallen und nimmt dies in einigen seiner Werke zum Thema.
Rusiñols Werk ist nach dem Impressionismus vor allem dem Modernismus zuzuordnen. Der katalanische Modernismus, der auch als Gegenbewegung zur industriellen Revolution zu sehen ist, sich in ganz Europa rasch ausbreitete und einen Bruch der traditionellen Baustile zur Folge hatte, befasste sich mit Kunst, Architektur, Literatur und Musik. Sein Hauptvertreter war Antoni Gaudí. Santiago Rusiñol zählt mit zu den bekanntesten Vertretern des Modernismus. Heute werden vor allem seine Gartenszenen bewundert. Santiago Rusiñol i Prats stirbt 1931 in Barcelona. Die Stadt verfügt heute über die meisten Jugendstilgebäude weltweit.
Christa Blenk