30 avril 2022 0 Commentaire

Zug klagender Frauen – Paula Modersohn Becker

für KULTURA EXTRA

Paula Modersohn-Becker – Zug der Klagefrauen

Lautstarkes, öffentliches Zetern, Jammern, Lamentieren, Weinen war ihr Beruf. Die Klageweiber: es gab sie schon im alten Ägypten und in der Antike. Beweint und beklagt wurden wohlhabende Verstorbene. Auftraggeber war meist die Familie. Die Lautstärke und der Umfang des Klagetrosses gaben den Grad des Trauerns und die Größe des Geldbeutels wieder. Pathos und Performance hatten die Trauergemeinde zu beeindrucken. Die Klagefrauen steigerten sich mit ihrer gespielten Trauer in einen hypnotischen Zustand, gebärdeten sich, rissen sich Teile ihrer Kleidung vom Leib, bewarfen sich mit Asche oder rauften sich die Haare, während die Familie würdig und stolz am Grab stehen konnte, ohne eine Träne zu vergießen. Trauer war ein Produkt, das man kaufen konnte. Bezahlte Trauer war wie Hintergrundmusik. Sie durfte sich nur in Geschrei, nicht in Äußerlichkeiten zeigen. Die Kleider hatten schlicht zu sein, die Farben gedeckt oder weiß und die Stoffe einfach. Auch auf Schmuck oder andere Accessoires wurde verzichtet. Paula Modersohn-Becker malte diesen Zug der Klageweiber im Jahre 1902. Das Bild hängt in Bremen und misst nur 56 x 91 cm.

Der Trauerzug ist düster und bedrückend und in milchig-trübes Sonnenuntergangslicht gehüllt. Die Frauen tragen einheitliche, dunkle, triste, braun-graue Kleider mit vereinzelten hellen Akzenten. Auf Individualisierung hat die Künstlerin verzichtet und den Protagonistinnen die Gesichtszüge genommen. Die Frauen halten sich an einer dicken Stoffkordel fest. Es ist eine Art Leichentuch. Man kann nicht sagen, wie lange der Trauerzug ist. Zu sehen sind zehn Frauen. Sie kommen rechts ins Bild, durchqueren dieses, um links hinter dem Bildrand zu verschwinden. Eine Filmsequenz. Ob sie hinter dem Sarg herlaufen ist nicht gesagt, denn sie kommen vom Berg rechts oben. Dort stehen drei Kreuze. Paulas persönliches Golgota! Die Bestattung scheint vorbei zu sein. Die Frauen wirken müde und ausgepowert. Sie sind wieder herunter gekommen und nun in sich gekehrt, wahrscheinlich haben sie stundenlanges Arbeiten hinter sich. Bewegte Rosa-Weiß-Töne hat Modersohn-Becker dem Himmel gegeben. Der Klagezug bewegt sich vor einem braun-beigen Hintergrund und der Weg, auf dem sie Frauen gehen, lehnt sich an den Himmelsfarben an. Die Kleider sind so lang, dass die am Boden dahin schleifen. Einige Frauen haben ihre Haare und das Gesicht bedeckt und tragen lange Schals. Die strohblonde Frau links im Bild bedeckt ihre Augen mit den nackten Händen. Jede einzelne scheint in sich versunken zu sein. Sie kommunizieren nicht miteinander. Nur die beiden Frauen, die fast spiegelbildähnlich angezogen sind, scheinen die Köpfe zusammen zu stecken. Niemand geht links der Kordel. Die Sandsturm-Stimmung lässt Orient und Okzident fusionieren.

Zu Silvester 1899 kommt Paula Becker (1886-1907) in Paris an. In den Jahren 1900 bis 1906 wird sie viermal zurückkommen. Ihre schwerfällig und manchmal klobig daherkommende Malerei wird mit der Zeit immer persönlicher, freier und Modersohn-Becker kümmert sich nicht um Vorgaben oder Modetrends. Ihre Frauenportraits sind naiv, irgendwie unbeholfen, unromantisch und schonungslos. Ständig hängt sie zwischen zwei Stühlen, zwischen Paris und Worpswede und Paul Modersohn, der sie lieber in der Küche als an der Staffelei sehen will. Sie malt wie eine nicht akademisch geschulte Autodidaktin. Ihr Pinselstrich ist patzig. Auch ihrem Freund Rilke schmeichelte sie nicht mit dem Portrait, eines ihrer bekanntesten. Er sieht darauf wie ein strenger Pfarrer aus.

Der Maler Paul Modersohn geht nach dem Tod seiner Frau zu Paula nach Paris. Nach der Hochzeit darf sie zuerst eine Kochschule in Berlin besuchen. Immer wieder flüchtet sie vom Sonntagsbraten an die Stadt an der Seine und hält ihren Kummer im Kochbuch fest. Das Bild der Klagefrauen entsteht 1902. Man braucht gar nicht zu erwähnen, dass sie keine glückliche Frau und Otto Modersohn sicher nicht der richtige Mann für sie war. Er hat sie nicht verstanden und obwohl er ihren Wunsch zu Malen respektierte, mochte er ihre Bilder nicht. Angeblich soll sie zu Lebzeiten nur drei Werke ihrer sehr großen Produktion verkauft haben.

Heute zählt Paula Modersohn-Becker mit ihrer gewollten Gauguin- und Nolde-Plumpheit zu den bedeutendsten Worpswede-Künstlerinnen und zu den Vorreitern der Expressionisten und der Art Brut.

Ein Jahr vor ihrem Tod verlässt sie Paul Modersohn erneut und geht nach Paris, aber finanzielle Sorgen lassen sie wieder zu ihm zurück gehen. Sie wird schwanger und stirbt, 32-jährig, drei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde. „Schade“ soll sie gesagt haben.

Christa Blenk

 

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