Ian Bostridge – Die Winterreise
Der britische Tenor Ian Bostridge ist ein Experte für Schuberts Winterreise. Für ihn ist sie der größte aller Liederzyklen überhaupt und genauso vermittelt er eben die 24 Lieder. Vor ein paar Jahren hat er ein Buch über seine Obsession mit diesem Werk geschrieben und der Zuhörer kann spüren, dass er jedes Wort, jede Note oder Stimmung, jeden Tongeschlechtswechsel analysiert hat und dass es für ihn keine dunklen, oder unbekannte Stellen mehr darin gibt. Trotzdem klingt sein Vortrag natürlich und intuitiv-spontan und nicht abgeklärt. Heute ist er 57 Jahre alt und sieht immer noch aus wie vor 20 Jahren.
Bescheiden und leise betritt er mit dem Pianisten Julius Drake die Bühne der Genter Oper, das Theater ist nicht komplett voll – das mag aber den strengen Corona-Kontrollen am Eingang zu schulden sein. .
Eigenwillig und ganz persönlich, fast schüchtern kommt er daher. Manieristischer Nuancenreichtum und leichtfüßige Dramatik! Er blickt so sehnsüchtig ins offene Klavier, dass man manchmal den Eindruck hat, er will sich darin verkriechen. Manchmal wird er zum tiefen Bariton und dann wieder glasklar hell und glücklich. Er bewegt sich mit einer rhythmischen Mehrdeutigkeit durch den Abend und nimmt natürlich Schuberts Anweisungen über Laut, stark, leise sehr ernst. Schnell sind die Übergänge von einem Lied zum anderen, die aber im Verlauf des Abends immer länger werden. Es war gespenstisch, eindringlich, intensiv, konzentriert und romantisch, nie hat ihn und uns die Spannung verlassen und obwohl er diese Winterreise schon weit über 100 Mal vorgetragen hat, klingt jede Note und Geste spontan.
Begleitet am Klavier wurde er von einem subtilen und sehr gratwandernden Julius Drake.
Die Winterreise op.89, D-911 ist ein Liederzyklus für Singstimme und Klavier, der aus 24 Liedern besteht. Franz Schubert hat ihn im Herbst/Winter 1827 komponiert – ein Jahr vor seinem Tod.
Sehr viel ist darüber geschrieben und philosophiert worden und jeder Liedsänger hat sich wohl ihrer einmal angenommen oder kommt daran nicht vorbei. Sie beginnt nicht mit dem Tag sondern mit der Nacht.
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh“ ich wieder aus“. Es geht um den Urschmerz des Menschen. Der Zuhörer wird zum Begleiter des Wanderers, ist bei seinem Liebeserlebnis dabei, nimmt die Hoffnungslosigkeit der Winternacht ernst und spürt den unterschwelligen Schmerz über die verratene Vaterlandsliebe.
Die Lieder hängen nicht zusammen sondern der Wanderer besingt, was ihn gerade so berührt oder was er erlebt. Hin- und hergerissen zwischen himmelhoch jauchzend und zum Tode betrübt, zwischen Hoffnung und Verlust derer. Schubert hat dies mit dem jeweiligen Wechsel des Tongeschlechts kenntlich gemacht, allerdings spürt man schon, dass immer mehr eine düstere Hoffnungslosigkeit übernimmt, bis er beim alten, verfrorenen Leiermann ankommt, für den sich niemand mehr interessiert, mehr noch, den keiner mehr wahrnimmt, der barfuß auf dem Eis steht und höchstens noch von den Dorfhunden angefeindet wird und weil man ihn nicht sieht, bleibt halt auch sein Teller leer, Niemand denkt daran, ihm eine Münze hineinzulegen. Aber er braucht ja nichts mehr, denn er ist ja schon tot. Der Leiermann ist verhexte Trostlosigkeit. Bostridge lehnt hier nur ganz ruhig am Klavier und blickt ins Publikum.
Die Literaturzeitschrift Urania, die Mülllers Texte veröffentlichte, war unter dem reaktionären Kanzler Metternich verboten. Schubert, als intellektuelles Sprachrohr der Opposition, kam nur auf Umwegen an die Texte, um sie dann im Todesjahr von Müller und ein Jahr vor seinem eigenen Tod zu vertonen.
Abenteuer, Heimweh und Nostalgie, Müdigkeit und Kälte, aber dann plötzlich bunte Frühlingsblumen und das Wirtshaus auf dem Totenacker sowie der Leiermann, ohne Schuhe, unsichtbar, auf dem Eis. So wie er singt das kein anderer.
Bostridge, der schon lange zu den führenden Liedsängern gehört, hat in Oxford und Cambridge Geschichte und Philosophie studiert und über Hexerei promoviert und damit ist es ihm natürlich ein Leichtes, des Publikum immer wieder aufs neue zu verzaubern. Er kennt alle Rezepte.
Am Freitag Abend war er beim Festival in Gent/Belgien mit Schuberts Winterreise zu hören. 2015 ist ein Buch von ihm über die Winterreise – Lieder von Liebe und Schmerz – erschienen.
Das sehr aufmerksame und ruhige Publikum hat mindestens 20 Sekunden gewartet, bis es ihn dann fünfmal auf die Bühne holte.
cb
Christa Blenk