Die Nacht von Golgota von Vassili Petrovitch Verechtchaguine
Golgota liegt in der Nähe von Jerusalem und bedeutet Stätte des Schädels.
An diesem Ort wurde nach den neutestamentlichen Evangelien der jüdische Wanderprediger Jesus von Nazareth gekreuzigt, nachdem ihn Pontius Pilatus, seines Zeichens Statthalter von Kaiser Tiberius in Judäa zwischen den Jahren 26 und 36, dazu verurteilt hatte. Nach dem letzten Abendmahl mit seinen Jüngern wurde Jesus durch den Judaskuss verraten und von der Tempelwache am Fuße des Ölbergs, im Garten Getsemani, verhaftet. Jesus ergab sich widerstandslos und lehnte jegliche Hilfe von Seiten seiner Jünger ab. Laut dem Markus-Evangelium (15,15-20) haben die römischen Soldaten Jesus zuerst seine Kleider genommen, ihm dann einen Purpurmantel umgehängt, ihn mit einer Dornenkrone gekrönt und ihn als „König der Juden“ verspottet. Nach der Verurteilung musste er sein Kreuz selber vor die Stadtmauern zum Kalvarienberg schleppen. Die Kreuzigung fand um die dritte Stunde (ungefähr 9 Uhr am Vormittag) statt. Die einschlägigen Forscher haben sich auf das Jahr 30 als Todesjahr von Jesus geeinigt.
Eine Kreuzigung war eine brutale Angelegenheit und drohte im römischen Kaiserreich Aufständischen, entlaufenen Sklaven, Räubern oder Bürgerrechtslosen. Der Todeskampf am Kreuz konnte sich Tage hinziehen und gierige Raubvögel erledigten den Rest.
Mit Jesus wurden noch zwei Räuber links und rechts von ihm gekreuzigt. Um die sechste Stunde (also gegen 12.00 Uhr) setzte eine dreistündige Finsternis ein. Anschließend hat Jesus den Satz „Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen“ gerufen. Ein mit Weinessig getränkter Schwamm löschte seinen letzten Durst bevor er um die neunte Stunde (um 15.00 Uhr) verstarb.
Nach dem Johannes-Evangelium und apokryphen Schriften nehmen nicht seine Jünger sondern der wohlhabende Josef von Arimathäa und Johannes Nikodemus Jesus vom Kreuz. Damit betreten zwei bis dahin relativ Unbekannte die Szene. Joseph von Arimathäa war laut den frühchristlichen Apokryphen Begründer des Gral-Christentums. Nikodemus, in einer Helferrolle, liegt zu Füßen des Gekreuzigten und entfernt die Nägel aus Händen und Füßen. Allerdings interpretieren unterschiedliche Malschulen die Szene immer wieder anders. Maria und Josef von Arimathäa werden oft mit einem Heiligenschein dargestellt. Letzterer war es auch, der Pilatus um Erlaubnis bat, den toten Jesus vom Kreuz nehmen zu dürfen, um ihn – dem jüdischen Brauch nach – noch am selben Abend zu begraben. Pilatus, der jeweils zu einem hohen Fest einen Gefangenen freiließ, hatte der gemeinen und mitleidslosen Meute angeboten, den „König der Juden“ freizulassen. Diese verlangten aber, dem Mörder Barabbas die Freiheit zu schenken. Hier kommt Propaganda ins Spiel, denn erklären konnten sie ihren Hass auf Jesus nicht.
Die Kreuzabnahme wird schon seit dem 9. Jahrhundert, aber vor allem in der byzantinischen Kunst, dargestellt. Um 1100 entstand ein großartiges Steinrelief im Kreuzgang des Klosters Santo Domingo de Silos (Spanien). Eine der wunderbarsten Kreuzabnahme-Bilder hat Rogier van der Weyden gemalt.
Das Bild „Die Nacht von Golgotha“ des russischen, unbekannten Künstlers Vassili Petrovitch Verechtchaguine (1835-1909) entstand 1869 und es ist deswegen interessant, weil er weder die Kreuzigung noch die Kreuzabnahme mal. Er malt das Danach, den Transport der Leiche zum Grab.
Links im Bild prominent die Hinrichtungsstätte auf dem Kalvarienberg. Die Sonnenfinsternis zwischen der 6. und 9. Stunde ist in Nacht übergegangen und alle Kreuzigungs-Touristen sind längt wieder zu hause. Die lange Leiter lehnt noch am mittleren Kreuz. Die barfüßige Trauergemeinde sitzt hier nicht unterm Kreuz, sondern ist schon unterwegs. In dem großen Leinentuch, das Arimathäa besorgt hatte, tragen sie den leblosen Körper mühsam durch den Hohlweg. Der Lendenschurz von Jesus liegt ganz vorne links im Bild auf dem felsigen Boden. Bis auf Arimathäa, der sein bärtiges Gesicht dem Betrachter zuwendet, sieht man alle anderen, in weite Umhänge gehüllte, Personen nur noch von hinten. Der Fackelträger selber ist schon um die Kurve verschwunden, aber der Schein seiner Laterne wirft noch Licht auf die Prozession und gibt dieser Szene einen warmen Glanz. Dem Zug dürften Joseph von Arimathäa, Johannes Nikodemus, Mutter Maria, Maria Magdalena, die heilige Veronika, Jesus‘ Lieblingsjünger Johannes und Maria Kleophae angehören. Bei den Felsen rechts scheint es sich aber nicht um das Felsengrab zu handeln, denn die Prozession geht daran vorbei. Der Maler hat der bewachsenen Felswand aber trotzdem Bedeutung beigemessen und sie in weißes Licht getaucht, das vom aufreißenden Himmel über dem ersten Gekreuzigten herabfällt. Ansonsten ist das Bild eine Sinfonie in blau-grünen Gewittertönen. Die beiden anderen Gehängten sieht man ebenfalls von hinter oder leicht von der Seite. Die große Kuppel in der Landschaft weiter unten rechts könnte der Felsendom sein. Dahinter blaues Hügelland.
Vassili Petrovitch Verechtchaguine hat ein spätromantisches Landschaftsbild ohne Pathos von hinten gemalt. Man sieht weder Blut noch Wunden nur todesdüstere Weltuntergangsstimmung.
1909 ist Vassili Petrovitch Verechtchaguine in Sankt Petersburg verstorben. Viel weiß man nicht über diesen russischen Aquarell- und Landschaftsmaler, der aus einer Künstlerfamilie stammte. Sein Vater und ein Bruder waren ebenfalls Maler. Ein Stipendium ermöglichte ihm mehrere Rom-Reisen zum Studium der Kunst. Das Ölgemälde Die Nacht von Golgota misst 66,5 x 100 cm und hängt in der Tretyakov Galerie.
Christa Blenk