Der Vierte Stand – zum 1. Mai
Denkmal der Arbeiterbewegung – Der Vierte Stand
Nach den lange andauernden Risorgimento-Bewegungen (eine Bewegung für Freiheit und nationale Unabhängigkeit mit der schillernden Persönlichkeit von Giuseppe Garibaldi – noch heute hat jeder italienische Ort einen Platz mit seinem Namen) wurde das neue Königreich Italien unter dem Haus Savoyen nach 1861 schnell vom Agrarstaat zu einem Industrieland – jedenfalls im Norden. Die neue europäische Großmacht Italien beteiligte sich ebenfalls am kolonialen Wettlauf um Afrika. Nationalismus, Industrialisierung, soziale Spannungen und revolutionäre Veränderungen bereiteten den Boden für Auf- und Umbrüche. Ab 1900 entstanden die ersten industriellen Ballungszentren in Norditalien und die Arbeiterschaft fing an, sich zu organisieren. Die traditionelle Arbeiterpartei in Italien (Partito Socialista Italiana) entstand 1892 in der Hafenstadt Genua. Aus ihr ging ca 30 Jahre später die italienische Kommunistische Partei hervor, die sehr schnell zur stärksten Fraktion der Arbeiterbewegung in Italien wurde.
Das Gemälde Il Quarto Stato (der vierte Stand) von Giuseppe Pellizza da Volpedo (1868-1907) ist ein Produkt des realistischen Naturalismus, mit dem sich der Künstler jahrelang beschäftigt hat. Volpedo malt hier was Hauptmann und Hugo mit „Den Webern“ oder „Les Miserables“ beschreiben. 1902 schließlich ist sie fertig, diese grau-braun-schlammige Sinfonie mit dem ursprünglichen Titel „Der Weg der Arbeiter“. Volpedo hat sich für den damals beliebten divisionistischen Malstil entschieden, d.h. die Farben werden nicht auf der Palette vermischt, sondern nebeneinander aufgetragen. Bei genügend Abstand zum Bild, macht das Auge des Betrachters den Rest. Heute wird das Bild als eines der Hauptwerke im Realismus betrachtet und zählt zu den Schlüsselwerken des 20. Jahrhundert.
Abgesehen von einem Grünstreifen im Hintergrund und als Ergebnis der Weiterentwicklung von Vorgängerversionen wie „der Botschafters der Hungers„ oder „Der Menschenstrom“ reduziert sich in „Der Vierte Stand“ das Geschehen fast nur noch auf Menschen. Sie schälen sich auf 16 qm friedlich aber entschlossen aus der Dunkelheit ins Licht. Männer, Frauen und Kinder sind zu dieser Kundgebung um mehr Arbeitsschutz und Gerechtigkeit gekommen. Sie sind Umstürzler und Vorreiter, die aus der Resignation oder Lethargie des ausgehenden 19. Jahrhundert ausbrechen werden. Die Landarbeiter gestikulieren, sie unterhalten sich, blicken stolz und unbeugsam in die Zukunft. Ihre Kleidung ähnelt sich und die meisten tragen einen Hut. Im Vordergrund gehen drei lebensgroße Personen: zwei Männer und eine Frau. Der Mann in der Mitte scheint der Anführer zu sein, er trägt eine Weste, die Jacke hat er lässig über seine Schulter geworfen. Die Frau scheint von der Seite auf ihn zuzukommen und macht eine fragende Handbewegung. Sie ist barfuß, trägt ein kleines Kind auf dem Arm. Volpedo hat ihr mit einem Augenzwinkern in die Renaissance das Aussehen einer Madonna von Raffael gegeben. Während die Menschen in den ersten Reihen noch identifizierbare Gesichter haben, verlieren sich diese in den hinteren Reihen. Architektur oder sonstige Bauten sind praktisch nicht in dem Bild zu sehen. Jahrelang hatte Volpedo Arbeiter und Landarbeiter beobachtet und sie bei Kundgebungen und Demonstrationen skizziert. Er selber stammte aus einer piemontesischen Bauernfamilie, war deshalb von seiner Herkunft her einer von ihnen. In dieser Arbeit steckt sein Herzblut und sie wurde zu seiner Lebensaufgabe. Noch im Entstehungsjahr 1902 wird das Gemälde zum ersten Mal ausgestellt. Fünf Jahre später, 1907, erhängt sich Giuseppe Pellizza da Volpedo noch keine 40 Jahre alt in seinem Atelier vor diesem Bild.
Nach seinem Tod hat die Stadt Mailand das Bild erworben. Il Quarto State misst 2,93 x 5,45 Meter und hängt im Mailänder Museum für moderne Kunst. Die Vorgängerversionen sind in der Pinacoteca Brera oder in Privatsammlungen zu finden.
Der italienische Regisseur Bertolucci hat das Bild in seinem Film 1900 im Vorspann eingeblendet. Ein Poster davon gehörte lange Zeit zur Ausstattung der Büros der linken italienischen politischen Szene.
Christa Blenk