Berliner Straßenszene – das Gegenteil von Social distancing
Eine Situation wie auf Ernst Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“ (1913) sieht man in Berlin schon seit zwei Wochen nicht mehr und es wird auch noch dauern, bis die Party-Hauptstadt wieder zu ihrem pulsierenden Leben zurückkehren kann.
Die neue Moderne erreicht Berlin recht spät und dann auch nur zögerlich. Die Berliner Sezession wird erst um 1900 nach der in Wien und München gegründet. Die konservativen Tonangeber verhindern sogar noch 1910 Ausstellungen von Werken der Expressionisten. Um diese Zeit kommt Kirchner zu Pechstein ins faszinierende und hektische Berlin. Seine Begeisterung über die Stadt bringt er mit den Straßenszenen zum Ausdruck. Große, manieristisch, langgezogene Gestalten mit auffallenden Mänteln, hohen, eleganten Kragen und immer aufgebrezelt. Die Berliner Kokotten stammten meist aus zugewanderten Arbeiterfamilien, die in der Stadt ihr Glück suchten und vor allem nachts unterwegs waren.
Die beiden Prostituierten in dem Werk Berliner Straßenszene befinden sich in der Mitte des Bildes. Sie sind groß und elegant. Die eine trägt einen roten Mantel, einen blauen Hut und eine weiße Federboa um den Hals. Die andere einen blauen Mantel mit weißem Kragen. Ihren dunklen Hut zieren rote, aufwendige Federn. Hinter der roten Dame sehen wir ein Gewusel von dunkel gekleideten Männern, die sich um eine grüne, ins Bild gequetschte, Pferdebahn scharen. Die Pferde laufen rechts vor weiteren dunkel gekleideten Männern wieder aus dem Bild. Rechts vor den beiden Frauen gehen zwei Männer. Hut, Mantel, weißer Kragen sind identisch. Kirchner hat hier die Zukunft und die Vergangenheit simultan gemalt. Die Vergangenheit kommt dem Betrachter entgegen. Der Mann blickt mit buschigen Augenbrauen blasiert und fast angewidert. Eine Zigarette hängt lässig in seinem linken Mundwinkel. Sein seltsam angewinkelter Kopf scheint aus dem Bild zu blicken. Während sein linker Arm wie leblos nach unten fällt, versucht die weiße Hand sich aus dem Bild zu stehlen. Sein Gegenstück kommt den suchend blickenden Kokotten entgegen, man sieht nur von hinten, erkennt aber, dass es sich um dieselbe Person handelt. Er marschiert direkt in die weiße Federboa der roten Frau hinein. Sie scheint ihn anzublinzeln, die geschminkten Lippen lächeln leicht spöttisch, obwohl ihr Ausdruck ernst und eher unnahbar ist. Könnte er ein Freier sein? Ob sich Kirchner hier selber darstellt oder ob es sein Malerfreund Otto Mueller ist, weiß man nicht. Straßenprostitution wurde zwar geduldet, aber eine Kontaktaufnahme in der Öffentlichkeit konnte trotzdem Probleme für beiden Parteien mit sich bringen. Das mag der Grund sein, warum der Mann sich abwendet und wegschaut. Mit der Menschenschar auf der Straße malt Kirchner zwar die Einsamkeit der Großstadt, aber das Bild ist alles andere als eine Sozialstudie. Kirchner interessiert sich hier weder für eine Randgruppenproblematik noch für die Armut hinter der Federboa. Die unruhig-irritierende Perspektive, die grotesk-verzerrten Bewegungen oder die spitz zusammenlaufenden Formen dienen lediglich der Ausdruckssteigerung seiner Bilder. Ein Paradebeispiel für den deutschen Expressionismus, dieses Bild.
Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) gehört zu den Mitbegründern der Künstlergruppe „Brücke“, die 1905 in Dresden den deutschen Expressionismus angekurbelt hat. 1913 wird sie aber schon wieder aufgelöst. Kirchner benutzt die Gruppe vor allem, seine eigenen Arbeiten über die Chronik der Brücke zu verbreiten.
Der feinnervige Maler geht 1915 als „unfreiwillig Freiwilliger“ (seine Worte) in den Krieg. Physisch und psychisch schon nach kurzer Zeit sehr angeschlagen folgen mehrere Aufenthalte in Sanatorien, bis er sich 1917 in der Schweiz niederlässt. Dieser Wechsel hat auch seine Kunst verändert. Die ersten Landschaften oder Landleben-Bilder zeigen noch seinen nervösen Berliner Pinselstrich, aber ab 1920 beruhigt er sich. 1937 werden seine Arbeiten aus den deutschen Museen entfernt und er genötigt, die Preußische Akademie der Künste zu verlassen, was ihn 1938 in den Freitod treibt.
Das Bild misst 121 x 95 cm und gehörte ursprünglich dem Brücke-Museum. 2006 wurde es nach einem Prozess, den die Enkelin des jüdischen Kunstsammlers Alfred Hess führte, vom Aktionshaus Christie für 30 Millionen Euro versteigert. Heute hängt es in der Neuen Galerie in New York.
Christa Blenk