Zeitigung – Anna Teresa Keersmaeker
Die Bretterbühne ist bis auf den Flügel im hinteren Teil leer! Keine Dekoration, keine Farben. Ein Arbeits- oder Trainingsraum. Peu à peu tanzen die Protagonisten ohne Musikbegleitung auf die Bühne. Sie scheinen noch schnell ein paar Schritte und Bewegungen einzuüben, bevor es wirklich losgeht. Einige sind wohl neu, denn sie müssen noch geführt und instruiert werden. Die männlichen Tänzer tragen normale Straßen- oder Trainingskleidung. Tänzerinnen kommen in dieser Produktion nicht vor. Nach einer gefühlten Viertelstunde humpelt Alain Franko auf die Bühne Richtung Klavier. Er hat sich vor ein paar Tagen den Knöchel gebrochen und trägt einen Gips, dies hindert ihn aber nicht daran, trotzdem zu spielen. Bachs wohltemperiertes Klavier passiert zuerst einmal ohne Tänzerbegleitung. Dann vereinen sich Musik und die acht Tänzer, die allein, im Duo oder zu mehreren auftreten. Sie tanzen Kontrapunkte, Ideen und philosophische Konzepte. « One Note one Step »! Die Tänzer verlassen auch nicht die Bühne, wenn sie gerade mal Pause haben. Sie sitzen oder stehen am Rand, lauschen der Musik, beobachten die anderen Tänzer. Es ist ein Lernprozess, sie trainieren. Manchmal wirkt der Auftritt improvisiert, dann wieder total durchgedacht und auf den Millimeter ausgearbeitet.
Die Musik von Alain Franco kommt manchmal wie Stummfilmbegleitung daher und übernimmt durchaus auch mal die Hauptrolle.
Das hat mit Tanztheater nichts zu tun und verlangt auch vom Zuschauer eine große Portion des Sich-Einlassens auf dieses persönliche Projekt von Anne Teresa De Keersmaeker, Louis Nam Le Van Ho und Alain Franco. Der choreografische Wortschatz dreht sich um Kopf – Schultern – Becken.
„Zeitigung“ ist ein anspruchsvolles Projekt, es ist getanzte Geometrie im Zeitraffer, prickelnde Energie, die die Tänzer an ihre physischen Grenzen bringt. Mit bunten Fäden versuchen sie diese zwischendurch einzufangen oder zu definieren.
Fast 10 Jahre nach „Zeitung“ (2008) griffen Anna Teresa De Keersmaeker und Alain Franco das Stück mit dem Namen „Zeitigung“ erneut auf. Der junge Choreograph und Tänzer Louis Nam Le Van Ho hat – zusammen mit den anderen Tänzern – einen neuen Tanz-Dialog entwickelt. Alain Franco wieder am Klavier mit seinen Lieblingskomponisten Bach, Brahms Schönberg und Webern. Vor zwei Jahren hatte das Stück am Brüsseler Kaitheater Premiere. Jetzt ist Rosas im Rahmen des Troika-Tanzfestivals 2019-2020 zurückgekehrt und führt vom 11. bis 14. Dezember „Zeitigung“ wieder im Kaaitheater auf.
De Keersmaeker hat sich den Begriff „Zeitigung“ bei Martin Heideggers Hauptwerk „Sein und Zeit“ ausgeliehen. Und um das Festhalten und Definieren von Zeit in der choreografischen Bewegung geht es auch schon bei der Vorgänger-Produktion „Zeitung“. Diese Arbeit entstand, als De Keersmaeker 2008 vom Brüsseler Monnaei-Theater wegging. Dort schloss sie 1995 die Lücke, die Maurice Béjarts hinterließ, als er die Brüssel für Lausanne verließ. De Keermaeker gründete mit dem Théatre Royal de la Monnaie die internationale Schule für modernen Tanz P.A.R.T.S. (Performing Arts Research & Training Studio).
Die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaekers hat Rosas 1983 gegründet. Sie ist auch künstlerische Leiterin. Ihr Ensemble zählt zu den Bekanntesten, wenn es um zeitgenössischen Tanz geht. Viel abstrakte Körperlichkeit und elegante Energie strahlen die Produktionen aus. Erzählerisches gibt es eher wenig.
Für die Saison 2019-2020 haben sich La Monnaie, das KVS und das Théâtre National Wallonie-Bruxelles zusammengeschlossen und ein gemeinsamen Tanz-Programm auf die Beine gestellt, das sich sehen lassen kann. 17 unterschiedliche Produktionen werden von Troika-Dance geboten.

Christa Blenk