GIER – Weimar – Die erhitzte Republik
Babylon Hamburg oder die Gier nach Freiheit
Theater geht überall: Sagt sich das Axensprung Theater und reist zum Publikum. Viermal schon ist die kleine Theatergruppe in Brüssel aufgetreten, jedes Mal mit einer neuen Produktion. Dieses Mal haben sie „Gier: Weimar – die erhitzte Republik“ mitgebracht. Die Premiere dieses brandneuen Stückes hat am 31. Oktober 2019 im Museum für Hamburgische Geschichte stattgefunden.
Die fünf Schauspieler Oliver Hermann, Angelina Kamp, Mignon Remé, Erik Schäffler und Markus Voigt schlüpfen im Verlauf der Vorstellung in unterschiedliche Rollen und so wird aus der oberflächlichen Lucy eine Journalistin oder eine politische Aktivistin und aus dem kriegsverletzten Architekten Paul ein Völkischer. Das kommunistische Geschrei unterscheidet sich nur in der Wortwahl von dem der Rechtsradikalen. In 90 Minuten wird die Geschichte eine Gruppe unterschiedlicher Personen gespielt, erzählt und mit Song-Einlagen erklärt und die Welt beschrieben. Politisch, poetisch, intelligent, feinfühlig, voller Leidenschaft und Freude am Theater. Man kauft ihnen jedes Wort ab.
Hamburg 1922: hoffnungslose Arbeitslosigkeit, Hyperinflation, politische Isolation, Hunger, Kriegsfolgen, Umsturzversuche münden in hoffnungsvolle, ausufernde Vergnügungssucht, Vergessen und umstürzlerische Freiheitsgedanken aber auch in Rechtsradikalismus. Frauen dürfen zum ersten Mal wählen und gesellschaftliche Hierarchien werden übersprungen. Experimentelle Kunst floriert und kann zensurfrei gedeihen. Die Kreativität von Maler, Schriftsteller und Musiker explodiert. Jazz- und Tanzlokale definierten die „Goldenen Zwanziger“ Jahre – jedenfalls für einen kleinen Teil der Gesellschaft – und bilden einen krassen Gegensatz zu den ausgedehnten Armenvierteln. Im Stück vermischen sich fiktive Personen mit real-historischen wie Walter Rathenau, Matthias Erzberger oder Fritz Schumacher.
Martha Knies (Mignon Remé) flüchtet sich mit ihren Kindern in eine kleine Wohnung in der Hamburger Problemzone, dem „Gängeviertel“. Die KPD, der sie sich anschließt, entdeckt ihr künstlerisches Talent und ermöglicht ihr ein Studium an der Kunstgewerbeschule. Dort lernt sie die freigeistige, impulsive und politisch uninteressierte Jüdin und Nichte des Schriftstellers und Verlegers Herwarth Walden, Lucy (Angelina Kamp), kennen. Die Frauen freunden sich an, obwohl sie komplett unterschiedlich sind. Martha ist eine politische Aktivistin und Lucy liebt nur das Leben und die Liebe. Lucy und die Avantgarde faszinieren Martha. Ein wenig widerwillig, da nicht mit dem kommunistischen Gedankengut vereinbar, begleitet sie Lucy im luxuriösen Charleston-Kleid zum alljährlichen Künstlerfest ins Curiohaus. Dort treten u.a. der junge Gustaf Gründgens, Mary Wigman, Hans Hanny Jahnn oder Victor de Kowa auf. Dieser ungezügelte und liederliche Lebenswandel soll ihr später zum Verhängnis werden, denn ihr Mann Rudolf Knies (Markus Voigt), den sie wegen allzu rechtsradikaler Gedanken verlassen hat, will dem gemeinsamen Sohn eine völkische Erziehung angedeihen lassen. Knie kommt wegen seiner Teilnahme am Kapp-Putsch ins Gefängnis und schließt sich später der geheimen, rechtsradikalen Organisation Consul an, die Jagd auf mutmaßliche Verräter an der deutschen Sache macht und die junge, fragile Republik destabilisieren will. Ein weiterer Mann in Marthas Leben ist Andersen (Erik Schäffler). Ein ehemaliger Hilfskellner, der sich zum Drogenhändler und Spekulanten hochgearbeitet hat und der durch die Inflation reicht und mächtig wird. Martha erweckt seinen Beschützerinstinkt und den Gut-Menschen in ihm.
Dann gibt es noch den Jazzmusiker Karlo, der in bekannten Vergnügungspalästen wie dem „Kakadu“ auftritt und ansonsten Probleme mit kriminellen Geldverleihern hat, zu denen auch Andersen gehört.
Auch der vom Krieg stark entstellte Architekt Paul Schätzing (Oliver Hermann) gehört in die Geschichte. Er liebt Martha, soll aber das unruhige und auch gefährliche Gängeviertel, in dem sie lebt und sich dort vor ihrem Mann – ohne Erfolg – versteckt hält, abreißen. Später merkt er, dass auch diese vermeintliche Reformation zum Zeitgeist der Spekulation gehört. Thälmanns harter Kurs lässt Martha später zur SPD wechseln und sie zieht wahrscheinlich in die Wohnung, die Paul ihr mit dem Geld von Andersen gekauft hat.
Sehr viel Stoff für knappe 90 Minuten, aber die Fünf schaffen es, ihn locker und problemlos und mit souveräner Eleganz herüberzubringen ohne offene Fragezeichen zurückzulassen.
Das Bühnenbild besteht aus einer Kleiderstange mit unterschiedlichen Mänteln und Mützen, einer spanischen Wand, einem Sofa und ein paar Gläsern. Filme auf einer Leinwand hinter der Bühne zeigen Fotomaterial und Zeitungsausschnitte aus den 1920er Jahren. Ein wichtiger Faktor ist außerdem die Livemusik aus der Zeit.
Text und Regie von Gier stammen von Erik Schäffler, die Musik von Markus Voigt.
Der Produzent Oliver Hermann wollte in den 1990er Jahren vom Fernsehen wieder zum Theater zurück. Anlässlich einer Ausstellung in Hamburg über den Untergang der Titanic hat er sich die Frage gestellt: „Was ging im Kopf eines Auswanderers vor, der damals auf einem dieser Schiffe nach Amerika ausreiste?“ Gemeinsam mit dem Musiker Markus Voigt entstand das Soloprogramm „Der Auswanderer“ . Ein singender Schauspieler und ein schauspielender Musiker haben das Theater Axenprung aus der Wiege gehoben und sich auf diese historisch-realistischen und fiktiv-biografischen Reisen in die Weimarer Republik spezialisiert.
Das generell reduzierte Bühnenbild ist dem Bewegungsprofil der Gruppe geschuldet. Denn sie treten in Schulen, in Museumsfoyers, in Gedenkstätten, auf Schiffen oder in öffentlichen Gebäuden auf. Den Anstoß kann eine Feldpostkarte, ein Zeitdokument, Bilder von Otto Dix oder Fritz Ascher aber auch die Lyrik von August Stramm geben.
Christa Blenk
www.axensprung-theater.de