Musikfest Berlin: Isabelle Faust: Nono
Der Weg ist das Ziel
Luigi Nono – La lontananza nostalgica utopica futura für Solovioline und Tonbänder
André Richard (Klangregie); Isabelle Faust (Violine)
„Caminante, son tus huellas el camino, y nada más”! Diesen Satz entdeckte Luigi Nono auf einer Mauer in Toledo. Damals wusste er wohl noch nicht, dass er von Antonio Machado stammt. Auf jeden Fall hat er ihn zu seinem Werk „La lontananza nostalgica utopica futura“ inspiriert.
Gestern Abend hat Isabelle Faust sich ihren Weg durch die Gänge und über Treppen von einem Block zum anderen der kleinen Philharmonie gesucht. Tastend, leise, manchmal unsicher, erreicht sie einen der neun im Saal verteilten Notenständer, stellt fest, dass es doch noch nicht der richtige ist, sucht weiter bis ihr das Ziel zusagt. Während dieser stillen Ermittlung der Station hört das Publikum Töne aus der Konserve. Diese sind das Ergebnis der Verschmelzung einer mehrtägigen Geigen-Improvisation von Gideon Kremer mit Nonos Klangexperimenten, Worten, Baulärm, Alltagsgeräuschen, Lachen, Zoogeräuschen, Schritten oder sogar kleineren Unterhaltungen. Eine konzeptionelle Komposition, die Nono 1988 im Freiburger Experimentalstudio des SWR auf acht Tonbandspuren aufgezeichnet hatte. Nono lebte in dieser Zeit fast ausschließlich in Berlin.
Im Mittelpunkt steht eine Raum-, Lärm- oder publikumsbedingte Präsentation und die Freiheit der Violinistin. Weder bewegliche Einschränkungen noch Tempi. Einzig das mühevolle Suchen nach dem Ziel ist vorgegeben. Der zweite Protagonist ist die Elektronik, d.h. der Bediener der Tonbandspuren; gestern Abend war das der Dirigent und Komponist André Richard. Hier braucht es einen Könner wie ihn, der das Mischpult bedient, denn er muss seine Arbeit dem Spiel der Geigerin anpassen und reaktiv tätig werden. Das heißt, er muss mit sehr viel Autonomie fertig werden und das Ergebnis ist meist oder immer unvorhersehbar. Nono musste davon ausgehen, gute, einfühlsame und reaktive Partner zu haben. Gestern Abend ist das hervorragend gelungen. Faust und Richard werden zu einer undurchdringlichen Symbiose, die viel Spannung erzeugt. Teilweise vergisst man als Zuhörer, wo die Töne gerade herkommen. Faust, auf flachen leisen Ballerinas, zelebriert ihren stillen Weg und Richard leitet sie, wie ein unsichtbares GPS, ein poetischer aber beunruhigender Dialog ohne Worte. Nach dem letzten Geigenton hält sie ihren Bogen noch solange in erhoben, bis sie hinter dem Eingang fast schwebend verschwindet, während die Bänder noch laufen. Dann fallen auch diese in totale und ewige Stille! Sogar das Publikum hält die Luft an.
Richard und Faust nach der Vorstellung
Einen geeigneteren Aufführungsort als den Kammermusiksaal der Philharmonie kann man wohl schwerlich finden.
Luigi Nono (1924-1990) hinterließ ein reiches Erbe an Werken, das die Siemens Musikstiftung zusammen mit seiner Frau Nuria Schönberg gerade dieses Jahr digitalisierte. Seine provokante Musik sollte für das Volk sein, das er aber vor große Herausforderungen stellte. Er war ein Grenzgänger ohne Berührungsängste. Sein Vater war Ingenieur, sein Großvater Maler und ein Onkel war Bildhauer. Farbe – Raum – Technik, er hat alles mitbekommen. Nono hat einmal gesagt, die Farbe des Wassers und der Steine in den Venezianischen Kanälen zwar nicht zu sehen, dafür aber hören zu können.
Gemeinsam mit Komponisten wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luciano Berio gehört er zu den bedeutenden Vertretern der Nachkriegs-Avantgarde. Nono war regelmäßiger Teilnehmer an den Kranichsteiner/Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik und seine Werke sind politisch oder klassenkämpferisch und prangern Intoleranz und Gewalt sowie soziale Ungerechtigkeiten an.
Großartiger Einstieg in das Berliner Musikfest, das noch bis zum 20. September andauert.
Christa Blenk