Harry Graf Kessler – Flaneur der Moderne
Harry Graf Kessler – Flaneur durch die Moderne
Wie sicher weiß ich, dass mein Staub einst die Zweige und Blüten emporwachsen und die stille majestätische Reise durch die Ewigkeit fortsetzen wird. Die Sterne werden in ungezählten Jahrtausenden herabblicken, und auch ich werde noch ein Teil des Alls sein; klein, aber ewig wie Gott. Und auch ich habe das Glück gekannt. (Harry Graf Kessler, 1.8.1898, Florenz).
„Die Duncan missfiel Vandevelde und mir gleich stark“, schrieb Harry Graf Kessler am 26. Januar 1903 in Berlin. „Sie ist affektiert, mit einem sentimentalen Augenaufschlag, hat nur eine Bewegung, die sie bis zur Qual wiederholt, tanzt ohne Takt und ohne Feuer, und hat mit der griechischen Kunst nur das gemein, was der Philister für „antik“ hält, d.h. öde Leere und süßliche Schönheit. Ihre Hauptreize sind, dass sie nackt und konventionell ist, eben dieselben Reize, wie die der akademischen Kunst. Sie ist die Verwirklichung des Akademischen in der Tanzkunst„.
Isadora Duncan (1877-1927) beeinflusste in dieser Zeit gerade die Entwicklung des Tanzes; sie gilt als Wegbereiterin des sinfonischen Ausdruckstanzes. 1904 kam sie nach Berlin und gründete dort mit ihrer Schwester eine erfolgreiche Tanzschule, die sich am griechischen Schönheitsideal orientierte und mit klassischer Musik arbeitete. Sie war gegen die Klassik und für die Antike. Die harten Worte, die Kessler für sie fand, haben sicher auch etwas mit ihrer Persönlichkeit zu tun. Sein Typ war eher die schillernde und androgyne Ida Rubinstein. Über sie schrieb er am 6. Juni 1911 „Ich ging nach dem zweiten Akt zu d’Annunzio und der Tata Golubeff in die Loge, wo Ida Rubinstein in einem schwarzen, golddurchwirkten Kleid mit einem wunderbar, gewellten blassrosa Paradiesvogel-Schweif auf dem Kopf stand, sehr lang , sehr geschminkt, etwas unheimlich sie ist, oder posiert auf den schönen Vampir. Ihr Körper, den Jeder kennt, weil sie sich nackt gezeigt hat, namentlich die wunderbar schlangen, knabenhaften Beine, steckt in dem schwarzen Goldbrokat wie in einem Etui; das Kleid ist bei ihr etwas Anderes wie bei anderen Frauen, kein Teil ihrer selbst sondern Etwas sozusagen Provisorischen, ein Gegenstand, der neben ihr selbstständig und fast rein kunstgewerblich in seiner Kostbarkeit besteht“.

In der Ausstellung hängen zwei Portraits von ihm, die Munch malte. Eines, Kessler sitzend, entstand 1904und hängt in einer Privatsammlung; es zeigt eher einen strengen und sehr serösen Mann, Kessler als Museumsdirektor. Am 9. Juli 1906 in Weimar schreibt er dazu folgendes: „Munch mein Porträt angefangen. Er sprach viel über sich, über seine unpraktische Art“ und zitiert ihn so „Vielleicht macht es die Konzentration auf meine Kunst, dass ich nicht verstehe das Leben. So kommt es, dass ich nicht gut bin mit Geld. Aber dann kommt eine Zeit, da sagt man sich, man will laufen lassen das Leben; man hat Besseres zu Thun. Jeder Dienstmann kann leben“. Hier spricht er von einem Ganzkörperportrait, das ebenfalls zu den Exponaten gehört. Ein paar Stunden später ging er abends in Hauptmanns „Weber“, das auf der Freien Bühne im Neuen Theater aufgeführt wurde und war entzückt von dem zierlich, zart und luxuriös ausgestatteten Theater, das bis auf den letzten Platz von einem elegant gekleideten überraffinierten, frenetisch klatschenden Publikum und dem Stück, dessen hohlwangige fieberäugige Hungergestalten all diesen zarten mittels Raubbau gezüchteten Culturblumen den Untergang verkünden. In dem großen Drama das sich abspielte waren die Hauptpersonen das Publik u. die Tendenz des Stückes; und das Drama war vielleicht fast weltgeschichtlich. Über Josephine Baker schrieb er am 13.2.1926 „Die Baker tanzte mit äusserster Grotesk Kunst und Stilreinheit; wie eine ägyptische oder archaische Figur, die Akrobatik treibt …..“ Man denkt bei ihr an Erotik ebenso wie bei einem schönen Raubtier.“
Im Mai 1912 besuchte er in Paris mit Reinhardt Sarah Bernhardt (sie war zu diesem Zeitpunkt 68 Jahre alt), „ein Gemisch von Neugier und Ehrfurcht, erfüllte ihn und er schrieb : „Sie kam uns vom Fenster aus entgegen in einem fließenden weisseidenem Negligé, an den Stühlen sich stützend, mit schlaffer Haut und Figur aber wundervollen Augen,, die Lionardesk durch das Halbdunkel unter einer wilden blonden Mähne hervorstrahlten, alt und jung zugleich wie eine junge uralte Zauberin (…) Reinhardt sass marmorn vor ihr und sah sie an; nur zweimal öffnete er den Mund: einmal., ich möchte ihr übersetzten, dass die zweitausendjährige Rolle der Jokaste eigentlich erst von ihr „créiert“ werden würde, dann, um hinzuzusetzen, erst sie werde die zwei Haupterfordernisse der Rolle vereinigen, weiblichen „Charme und großen Stil:“
1916 traf er in Berlin Becher und schrieb auf, was dieser ihm über die leichtlebige Schriftstellerin und Kabarettistin Emmy Hennings erzählte. Tratsch und Gerede gehörten fanden ebenfalls Eingang in seine Tagebücher wie Intellektuelles und Politisches! George Grosz hält er für eine mimosenhafte, empfindliche Natur, die aus Empfindsamkeit unerhört brutal wird und die Gestaltungsgabe zu dieser Brutalität besitzt.
1926 war er wieder in New York und reiste im Februar nach Berlin. „Morgens fort aus New York: ungern, bei jedem Abschied von einem Orte, an dem wir gelebt haben, lassen wir Etwas von uns zurück, die Menschen, die wir kennen gelernt haben, selbst die Gebäude, an denen wir täglich vorbeigegangen sind, sind zu einem Teil unseres Ich geworden, von dem wir uns beim Weggehen trenne müssen, ein jeder Abschied ist eine Art von Tod, Etwas von unserem ich, von unserer Persönlichkeit, geht unwiederbringlich unter, stirbt„.
Frühstück mit Frau Förster-Nietzsche oder mit Diaghilev, Beerdigung von Hugo, Bericht über Spenglers Vortrag über „Nietzsche und das 20. Jahrhundert“ oder Anekdoten. Schwärmen und lästern, bissig und bewundernd. Es ist sicher schwieriger jemanden zu finden, den er nicht kannte als umgekehrt.
Auf vier verschiedenen Toninseln werden Auszüge aus seinen Tagebüchern gelesen und man ist fasziniert von der Freiheit seiner Worte, der selbstsicheren und feinen Beobachtung, der Vielseitigkeit seiner Interessen. Geschlafen hat er sicher nicht viel.
Europäer, Menschensammler, Diplomat, Weltbürger und Weltreisender, Verleger und Salonlöwe, geboren in Paris wuchs Kessler an vielen Plätzen in Europa auf und wurde mit vielen unterschiedlichen Kulturen konfrontiert. Er selber sah sich als Mitglied der europäischen Gesellschaft.
12 000 Personen werden in seinen Tagebüchern erwähnt. Er kannte alle bedeutenden, den ton-angebenden und den fin de siècle definierenden Persönlichkeiten, Künstler oder Politiker. Alles und Alle haben ihn interessiert und seine Tagebücher füllte er mit den Erkenntnissen die er als Flanierender durch die Welt und durch die Kunstszenen erfuhr und erlebte: 15.000 eng bis an den Rand beschriebene Seiten, die er ab dem 12. Lebensjahr aufzeichnete und nun neun dicke Bände füllen.

Vom leichtherzigen Flaneur zum kritischen Intellektuellen
Widersprüche, Unsicherheit, Anklagen, Vorwürfe, Verwunderungen, Anekdoten. Ein Flaneur ist immer unterwegs, sein zu Hause sind die Boulevards und die Wohnungen von Künstlern, Theater, Gallerien, Museen. Ein Flaneur beobachtet und hält fest. Kunsttendenzen, Premieren, Zeitungsartikel, Fotografien, Unterhaltungen. Der Flaneur steht im Mittelpunkt des Geschehens, ist gepflegt und kann jede Unterhaltung bestreiten. Sehen und gesehen werden.
Über sich selber hat er wenig geschrieben.
Im Laufe der Jahre ist er gewachsen, die Frivolität, der Dandy ist von ihm abgefallen. Er war Diplomat, Verleger, Museumsdirektor und Kunstsammler.
Die Ausstellung im Liebermann-Haus ist eine Hörausstellung. Im Eingangsbereich versetzt der Kurator den Besucher in die Zeit um die Jahrhundertwende. Klassische Portraits, Impressionisten, Expressionisten, Maillol- und Rodin Skulpturen, Nietzsches Totenmaske, ein paar Gemälde. Nicht viel, aber es reicht grad, um den Besucher in Graf Kesslers Zeit zu versetzen. Im ersten Stock geht es nur noch um Wörter, um Geschriebenes. Graf Kesslers Tagebücher sind im Original ausgestellt, säuberlich geschrieben mit Zeitungsartikeln oder Fotos dokumentiert. Es geht um Kunst, um Krieg, um Menschen.
1937 ist er verarmt bei seiner Schwester in der Nähe von Lyon verstorben. Es bleibt nur ein Koffer, ein wenig Besteck und ein Kerzenleuchter von ihm übrig!
Christoph Stölzl hat die Ausstellung im Berliner Liebermann Haus kuratiert. Ein Blick in seinen « Kopfkosmos » nennt er sie.
Christa Blenk