25 février 2016 0 Commentaire

Kurzgeschichte: Von Moorgeistern und Laubfrauen

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Von Moorgeistern und Laubfrauen

Die Bürger vom Etournel oder: Ein Ausflug mit der Installationskünstlerin und Malerin June Papineau in ihr Moor im französischen Jura

Feste Schuhe, lange Hose, langärmelige Bluse, Kopfbedeckung und Mückenspray mitbringen – ist die Antwort von June Papineau auf unseren telefonisch geäußerten Wunsch, mit ihr in den Etournel zu fahren, ein Moor-Biotop im französischen Jura, 30 Kilometer und 35 Autominuten von Genf entfernt. Wir müssen uns aber früh auf den Weg machen, sagt sie, sonst wird es zu heiß. Es klappt natürlich nicht. Wir erreichen den Parkplatz erst am späten Vormittag und die Sonne steht schon sehr hoch. Die ersten zehn Minuten spazieren wir ohne Hindernisse gut gelaunt, fast gemütlich und sorgenfrei über Monet-Wiesen, vorbei an einem See mit dem obligatorischen Märchen-Schwan; überall heile Welt und Leberblümchen, Erika, Disteln, Blumen und Pflanzen, die man nicht mehr jeden Tag sieht. Leicht übertrieben, ihre Panikmache, denke ich mir, und prompt verlassen wir zur Strafe den Weg und schlagen uns buchstäblich ins Gebüsch und aus der Zivilisation. Das Buschmesser hat sie vergessen zu erwähnen, war mein nächster Gedanke, als wir ein wenig später von Lianen gepeitscht den schlammigen „Styx“ überqueren, der Dank der großen August-Hitze nur wenig Wasser führt was uns vor dem Versinken im moorastigen Schlick rettet. Mit nassen Schuhen, was aber fast angenehm war, schleppen wir uns weiter durch ein abenteuerliches Dickicht à la Indiana Jones, kein Ende abzusehen, wir schwitzen, eingepackt wie wir sind und vor und um uns nur höllischer Tann und Dornen. Ich bin sehr froh, nicht allein zu sein und bewundere sie sehr, wenn ich daran denke, dass sie seit Monaten fast jeden Tag diesen Weg allein zurücklegt und viele einsame Stunden hier verbringt, denn mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass es hier spukt!

Ganz plötzlich, ohne Vorankündigung und wie aus heiterem Himmel steht er vor uns: thegreat goyesco. Und obwohl June uns schon viel von ihm erzählt hat und wir Fotos von dieser Skulptur in Arbeit gesehen haben, halten wir abrupt den Atem an: so gewaltig, imposant, beeindruckend und fast ein wenig angsteinflößend hätten wir uns ihn nicht vorgestellt. Dunkelweiß, wie ein großes vielarmiges Monster das uns umarmen oder verschlingen will, schlängelt er sich uns entgegen: das hier ist nicht nur ein gefallener Stamm; dieser Baum ist filigran, verästelt, vernobbt und verzweigt und hat etwas irreal Lebendiges. Im Stillen fragen wir uns wie sie dem hier wohl die Haut abziehen will, die sie ihm in wochenlanger Arbeit angezogen hat und vor allem, wie sie ihn heil aus diesem Dschungel herausbringen will. Wir wagen gar nicht zu reden, um diese heilige, gruselige Geisterstille mitten im Moor nicht zu durchbrechen und sind einfach nur fasziniert. Diese Anstrengung hat sich wirklich gelohnt, denke ich bei mir.

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Künstler und Alchemisten haben so einiges gemeinsam. Beide werden sie von dem Wunsch getrieben, einen Gegenstand (Farbe, Marmor oder Metall) in einen anderen (Bild, Skulptur, Gold) zu verwandeln. Sie sind auf der Suche nach Neuem und ihr Hilfsmittel ist die Metamorphose. Ovid hat um 6-8 n.C. die kursierenden Geschichten von Göttern und Menschen zusammen gesucht, vervollständigt und weitere hinzugefügt. Dafür wurde er von Kaiser Augustus zur persona non grata erklärt und ans Schwarze Meer verbannt. Kunst und Literatur der letzten 2000 Jahre wären allerdings ganz schön leer und langweilig ohne seine Erzählungen.

Die Metamorphose war das prominenteste Handwerkszeug der Götter in der Antike. Zum Einsatz kam sie vor allem, um ungehorsame oder zu talentierte menschliche Wesen zu bestrafen und sie in ihre Schranken zu weisen. Manchmal war aber auch Barmherzigkeit der Grund, jemanden oder etwas zu verwandeln. Denken wir an Niobe, der die Gnade widerfahren war, in einen Stein verwandelt zu werden, um vom Leid abzulenken, nachdem Apoll alle ihre Kinder getötet hatte. Oder Echo, die von sich aus ganz langsam zu einem alles wiederholenden Felsen erstarrte, um ihren Kummer über Narziss’ verschmähte Liebe nicht mehr ertragen zu müssen. Die Wassergöttin Thetis verwandelte sich in einen Vogel, um sich vor Peleus’ Annäherungsversuchen zu schützen und Hermann Hesses Piktor darf durch einen Zauberstein ein Baum werden. Eine Verwandlung hat immer etwas Angst einjagendes und faszinierendes. Eine der schönsten Geschichten allerdings ist die von Pygmalion, hier ist es umgekehrt und der Stein erwacht – aus Liebe – zum Leben!

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Auf dem Rückweg zum Auto begegnen wir überall June Papineaus‘ alten Bekannten: Bäumen, deren Haut, Haar und Seele sie schon abtransportiert hat. Man sieht ihnen diese Bearbeitung aber nicht mehr an und sie haben diese natürlich alle ohne Schaden überstanden. June erkennt sie aber trotzdem, wie eine Mutter ihre Kinder erkennt. Den großen orakelhaften Hexenbaum mantic skin hat sie im Frühjahr 2012 in Frankreich ausgestellt; er sieht nach der Umwandlung aus wie ein Bürger von Rodin. Mantic Skin ist der Abdruck einer Erle. Sie hätte ihn auch den Erlkönig nennen können, denke ich und prompt, wie durch Gedankenübertragung, fängt sie an, Goethes Erlkönig zu zitieren. Es irrlichtet und erneut muss ich meine Bewunderung für ihren Mut ausdrücken.
Wir setzen unseren Weg durch das ungemütliche Ried fort und nach weiteren fünf Minuten immer im Kampf mit den Schlingpflanzen, Mücken und dornigem Gestrüpp treffen wir auf
Dr. Vengos’ tree, dann auf Alderskinn. Ich denke an William Blakes Ölgemälde von Vergil und Dante im Wald, und ein wenig fühlen wir uns auch so, nur dass diese Bekanntschaften auf dem Pfad ins Paradies keine ehemaligen Florenzbewohner sind, sondern Bäume, die von June Papineau verkleidet, entkleidet und nach Hause gebracht wurden. Sie kennt all die Geschichten und wenn sie unter der Woche alleine kommt, dann hört sie das Flüstern der Moor-Bewohner, und ich verstehe schon sehr viel, was sie sagen, sagt sie mit einem Augenzwinkern.

All diese Gesellenstücke haben auf das große Meisterwerk, den „great goyesco“ hingearbeitet. Bevor er von dem gewaltigen Hurrican im Jahre 2000 komplett entwurzelt wurde, war er ein stolzer anonymer Weidenbaum. Die gefallene Weide hat Papineau ein paar Jahre später durch Zufall entdeckt.

Heiß wie im Inferno ist es hier und deshalb fährt sie normalerweise schon im Morgengrauen dorthin, arbeitet bis zu 10 Stunden, bevor sie den 35-minütigen Fußweg und die Rückfahrt nach Genf antritt. Manchmal kommt sie auch erst in der Dämmerung an, zwischen „chien et loup“, wie die Franzosen sagen. Furcht kennt sie nicht, mittlerweile identifiziert sie das flötende Gesäusel der Blätter, kann die unterschiedlichen Geräusche zuordnen und bewegt sich zu den immer wechselnden Licht – und Schattenspielen bei jeder Witterung.

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June Papineau hat dieses Biotop im Moor von Etournel im Jahre 2004 entdeckt und mittlerweile ist es fast wie ihr zweites Atelier geworden. Die unzähligen mosaikartig angeordneten kleine Teiche und stehenden Gewässer werden u.a. von der Rhone gespeist und beherbergen eine außergewöhnliche Fauna und Flora. Über 500 verschiedene Pflanzen umgarnen die Erlen, Weiden und Eschen. Ganz besonders schön die weiße Weide. Biber und Rotwild tummeln sich hier genauso wie unzählige Libellen und seltene Schmetterlinge (wir haben allerdings hauptsächlich mit den kleinen aggressiven Mosquitos Kontakt aufgenommen, d.h. sie mit uns).

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 « Die Tragödie besteht darin, dass sich der Baum nicht biegt, sondern bricht », sagte Ludwig Wittgenstein. Great goyesco hing jahrelang schräg zwischen Himmel und Erde, bis er vor kurzem ganz gefallen ist und „reif“ war für die Zubereitung oder die Verwandlung war. Seitdem arbeitet sie an ihm. Er ist – abgesehen von einem großen Sequoia-Baum in Genf – der erste nicht lebende Baum, dem sie eine Hautkleid schneidert. Ihre angelsächsische Vergangenheit und der Einfluss der Elfen, Wichte und Laubfrauen in den Rocky Mountains, mit denen sie schon als Teenager Bekanntschaft geschlossen hatte, machen sie zu einer Mischung aus Dr. Faustus und Hekate; so versucht sie mit ihrer Zaubermischung aus Porzellan-Ton, Methylcellulose, weißem Kleber, Jurasalz, Mullbinden und Propylenglykol, die Baum-anima einzufangen. Mittlerweile hat sie diese Mischung so perfektioniert, dass ihre Baumhaut-Kunstwerke biegsam bleiben.

Geduldig und bedächtig trägt sie nach anthroposophischer Manier die Zauber-Tinktur auf; und Wochen später – wie eine Anakonda sich häutet – streift sie ihrem Baum das maßgeschneiderte Kostüm wieder ab und wendet es. Was wir letztendlich zu sehen bekommen, ist das Negativ eines Positivs, das ursprünglich als Negativ auf dem Baum lag. Ab und zu bleibt ein wenig vom Bart der Baumrinde hängen, die vom Flüstern der Laubfrauen leicht bewegt wird.

Beeindruckend der Prozess, wie June Papineau auf diese Weise einen konkreten Lebens- oder Wachstumsmoment des Baumes für immer festhält – und genauso beeindruckend die Künstlerin: „Wir sind sehr verletzbar!“ sagt sie. Vielleicht sucht sie selber so etwas wie eine Schutzhaut. Ein Narr sähe nicht denselben Baum, den ein Weiser sieht, hat William Blake gesagt. Was June antreibt und ihr die Kraft gibt, in dieser Fast-Hölle wochenlang diese Baumkleider zu nähen und zu warten, bis der Trockenprozess abgeschlossen ist, können wir nur verstehen, wenn wir dann das Endprodukt sehen. Ihre „tree skins“ sind wirklich betörend, magisch und herrlich, eben weil die Häute oder Felle manchmal an Ungeheuer und seltsame Fabelwesen erinnern, die dann z.B. Marsyas heißen.

* * *

Menschen kommen dort keine mehr vorbei. Dass wir aber nah an der Grenze zu ihnen sind, merken wir, wenn ab und zu, je nachdem wie der Wind geht, der TGV von Genf nach Lyon vorbei saust. Ansonsten ist da höchstens das Rascheln des Windes und das Surren und Schwirren der Moskitos. Die Plastikhandschuhe nimmt sie nur ab, um Fotos zu machen und dann ist sie auch gleich Opfer dieser kleinen Dinosaurier.

« Glück und Unglück sind Namen für Dinge, deren äußerste Grenzen wir nicht kennen », sagt John Locke. June Papineau sucht sie, diese äußeren Grenzen. Sie will sie auskundschaften und verhindern, dass sie überschritten werden. Sie ist eine Gratwandlerin, besessen und fasziniert davon und bezeichnet sich selber als „limitroph“. Ihre Antennen sind sensibler als unsere, und sie steckt voller mystisch-primordialer Poesie.

 Tief ergriffen verlassen wir ihr Moor.

* * *

 Sechs Monate später, im Oktober, war er dann „reif“ und June konnte mit dem „Schälen“ beginnen. Drei Tage hat der Abbau gedauert, dann war das Baumkleid – jetzt ohne den schützenden Baum und deshalb sehr vulnerabel – für den Transport in die Zivilisation bereit. 30 km Autofahrt später erreichte er als große, weiße unförmige Masse June Papineaus Atelier in Genf. Nun begannen die Vorbereitungen für die Wiedergeburt der Skulptur. Von Oktober bis Mitte Februar besserte sie die Wetter-, Abbau und Transportschäden auf das Minutiöseste aus, bis er renoviert und schön genug für den großen Tag im März 2014. Einmal dort angekommen, erinnerte nur noch die grün gestrichene Wand in der Galerie D’(A) in Lausanne an sein früheres Zuhause: das Moor.

Wuchtig und trotzdem zart und sehr elegant füllt die ungefähr 12 Meter lange Skulptur die 25 qm eines Raumes der Galerie ganz alleine aus. Die Feen, Laubfrauen und Moorgeister sind natürlich mitgekommen. Allen voran Marsyas, er begrüßt die Besucher aus dem Schaufenster der Galerie. Unseren Baum erkennen wir sofort beim Näherkommen. Er hat sich gar nicht verändert, nur sieht er hier, in diesem Umfeld, so sauber und klinisch rein aus. Der Waldzauber ist erstmal verschwunden aber das Publikum wird trotzdem magisch von ihm angezogen.

 The Great Goyesque hat eine Transition vom Pflanzlichen (vegetarischen) zum Steinigen (mineralischen) hinter sich. Man kann unter ihm durchgehen und ihn von beiden Seiten bestaunen und sieht manchmal noch ein wenig vom mineralisierten Moos. Wenn man ganz nahe ran geht, kann man das Jura-Salz riechen. Wir sind irgendwie erleichtert aber vielleicht doch ein wenig traurig, dass wir nicht nochmals mit Mückenschutz und Buschmesser in das Etournel-Moor fahren dürfen, um ihn zu besuchen.

 Sein Auftritt in der Galerie in Lausanne ist eine Wiedergeburt, eine zweifache Renaissance durch Metamorphose. Einmal das Auflegen der persönlichen Geheimmischung, die Abnahme der Maske im Wald, der Transport und der Wiederaufbau im Atelier und ein paar Wochen später der zweite Abbau und die endgültige Installation in der Galerie.

Nachts, allein in der Gallerie in Lausanne, erwacht er wieder zum Leben und erzählt die Geschichten aus dem Moor, als er noch ein stolzer und majestätischer Baum war – vor dem großen Sturm und vor der Verwandlung in eine zeitgenössische Plastik.

 ***

 Aber June Papineau kann das Moor nicht mehr lassen. Seit kurzem fährt sie – bewaffnet mit Block und Bleistift – wieder dorthin um ihre Etournel-Bürger auf dem Zeichenblock festzuhalten. Die sich mit der Zeit immer mehr reduzierende gefallene Eiche wird sie solange begleiten, bis sie komplett im Morast vom Etournel für immer verschwunden sein wird.

 Was bleibt ist der große weiße Negativabdruck des Baumes, die Skulptur, die in Lausanne ausgestellt war. Sie ruht gut aufbewahrt in Kisten in ihrem Atelier umgeben von getrockneten Mistelzweigen, Wurzeln, Baumrinden, zukünftigen Mini goyescos und Steinen und darauf wartet geduldig, wieder einmal dem Publikum vorgestellt zu werden.

 Christa Blenk

 

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