Ingres im Prado

Klassizistische Sinnlichkeit und kühle, knochenlose Schöne
Für Anatomie hat er sich offensichtlich nicht interessiert. Die Frauen auf den Gemälden von Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780-1867) sind biegsamer als andere, sie haben Gummi-Wirbelsäulen, um 360 Grad drehbare Köpfe, ja sie wirken irgendwie skelettlos. Weder Handknochen, noch Schlüsselbeine sind zu erahnen, nichts, nur weißes makelloses Fleisch. Ingres kümmerte sich wenig um Konventionen oder Moden und malte wozu er Lust hatte! Seine Portraits sind unverkennbar. Viele Jahre verbrachte er in Rom und in Italien, zum ersten Mal ab 1806 – Ingres erhielt erst 20 Jahre alt den begehrten Prix de Rome für sein Gemälde Achill empfängt die Bittgesandschaft des Agamemnon – und blieb gleich 18 Jahre in der ewigen Stadt; dann folgte von 1835 – 1841 ein weiterer Aufenthalt, dieses Mal als Direktor der Villa Medici. Raffael, Idol der Klassik und der Nazarener, Poussin aber auch Bronzino prägten vor allem seine Bilder oder Portraits. In Rom konnte er sie studieren, Raffaels idealisierten Perfektionismus und Bronzinos kalte, distanzierte Blassheit.
40 Jahre nach Ingres Tod hingegen stürzte sich Picasso, der 1904 nach Paris kam, auf ihn, mehr noch die Begegnung mit Ingres Malerei kam einer Zäsur gleich, die ihn direkt in seine blaue und rosa Periode pilgern ließ. Ruggiero befreit Angelika (1819) oder die Skizze dafür Angélica sind das beste Beispiel dafür und Ingres hat es Picasso in den Pinsel diktiert, der einfarbige Hintergrund, der fast eckige schon prä-kubistische Körper! Beeindruckend. Das Gemälde „Virgil ließt Augusto, Octavia und Livia aus der Aeneis vor“ (1819) hat Ingres 1819 in Rom gemalt und es hängt heute in Brüssel, oder Ossians Traum (1813) scheint sich ein anderer zum Vorbild genommen zu haben. Der Italiener Mario Sironi, dessen Fresken eine direkte Verbindung zu Ingres herstellen. Aber auch die italienischen metaphysischen Maler wie De Chirico kamen nicht an ihm vorbei.


Alles ist rund und eines seiner letzten, wichtigen und auch bekanntesten Werke, Das türkische Bad (1863) hat er nach Fertigstellung sogar als Tondo zugeschnitten, damit es den sich lüstern präsentierenden Frauen im Bad harmoniert. Er hat diese Szene zweimal gemalt; dieses hier der Louvre ausgeliehen. Die hedonistische Chronik einer unermesslichen und satten Fertilität, eine Schlangengrube. Angeblich von Caroline Murat, ihres Zeichens Königin von Neapel und Schwester Napoleons in Auftrag gegeben, war es nur ein krönender Abschluss seiner unzähligen Badeszenen, die so im Gegensatz zu den Portraits stehen, wie die große Badende (1808) und die kleine Badende (1828) . Beim türkischen Bad hat Ingres sich an einer Erzählung aus dem 18. Jahrhundert inspiriert, die die Frau des englischen Botschafters, Lady Montagu, nach dem Besuch eines solchen Badevergnügens dokumentierte. Sie erzählt darin, wie die Frauen sich auf die Hochzeit von einer der Anwesenden vorbereiteten. Diese freudige Tummeln von Freundinnen in einem Hamam hat Ingres Männerauge in eine sinnliche und unglaublich erotische Szene dargestellt, die ihm erst mal einer nachmachen muss.
Immer wieder wurde er mit Delacroix verglichen und seine bewusst eingesetzte anatomische Unkenntnis legte man ihm gerne als fehlende Technik aus, aber vom Thron des Hofmalers wurde er trotzdem nicht gestoßen. Das passierte dann später einem anderen, seinem prominentesten Modell. Napoleon I krönte sich 1804 wie wir wissen höchstpersönlich, siegte 1805 ruhmreich bei der Schlacht von Austerlitz und Ingres malte ihn 1806 in voller anachronistischer Pracht. Das 260 x 163 cm große Gemälde Napoleon I auf dem Thron hat der Louvre ausgeliehen. Waterloo fand 1815 statt und als ob Ingres die Geschichte vorausgesehen hätte, hat er ihm, dem Kaiser, einen abnehmbaren oder austauschbaren Kopf verpasst. Nicht zu haltender Prunk vor einem Volk, das mit der Revolution genau das abschaffen wollte.
Ein weiterer fundamentaler Teil ist Ingres Portraitmalerei gewidmet. Jeder böse schwarzseelige Gedanke oder listige Hintergedanke wird offenbart. Dummheit, Boshaftigkeit, Intelligenz und Macht, kein Modell rettet sich vor Ingres Wahrheit. Mit dem Portrait von Louis-Francois Bertin (1832), das ebenfalls aus dem Louvre kommt, zeigt er alle seine Ambitionen, es ist zwischen zwei Italien-Aufenthalten entstanden und ein psychologisches Schlüsselwerk, das durchaus einen Akademismus vortäuschen konnte, aber ohne Zweifel viel weiter ging und den notwendigen Anstoß für die einsetzende künstlerische Revolution Ende des 19. Jahrhunderts gab.
Das dritte Kapitel gehört Ingres Historienmalerei. „Franz I am Sterbebett beim letzten Atemzug von Leonardo da Vinci“ (1818) aus dem Petit Palais Paris oder Paolo und Francesca (1819) aus Angers. Bei letzterem malt er eine Szene aus Dantes Hölle. Es hat etwas voyeuristisches, wie der alte Malatesta hinter einer Wand hervorlugt, seine junge Frau mit Paolo beobachtet und dabei sein Schwert wetzt. Ein kleines Bild, eher unüblich für die Historienmalerei, ganz in leidenschaftlichem Rom.
Abgesehen von der Kunst war die Geige das Wichtigste für Ingres. Sein Hobby, mit dem er bei privaten Abendgesellschaften gerne seine Gäste erfreute und sich durchaus auch in Szene setzte. Wenn man heutzutage in Frankreich von violon d’Ingres redet, ist das eine Anspielung auf etwas was man gut kann.
In Zusammenarbeit mit dem Musée du Louvre präsentiert die Ausstellung an Hand von 70 Exponaten einen chronologischen Parcours des Werkes des Künstlers. Ein Großteil der Exponate kommt aus dem Museum Montauban, seinem Heimatort, ein weiterer aus dem Louvre und aus anderen großen Museen wie der Frick Collection oder Brüssel. Ein außergewöhnliches noch nie da gewesenes Ereignis in einem Land, in dem Maler wie Madrazo direkte Schüler von Ingres waren.
Bis Ende März 2016 ist die Ausstellung noch zu sehen und ist auf keinen Fall zu verpassen!

Christa Blenk