Geburtstagskonzert für Giacinto Scelsi



Wohltemperiertes, inspiratives Geburtstagskonzert für einen intuitiven Improvisator
Schon auf dem Weg zum Konzert spürt man diesen ganz besonderen Abend im Anmarsch. Eine laue Winternacht, um den Palatin herum geht es in die Via San Teodoro und die gewaltigen Ruinen der römischen Kaiser auf der rechten Seite ziehen unseren Blick an. Die Nummer Acht muss erst mal gefunden werden. Ganz diskret steht Fondazione Scelsi an der Tür, wir klingeln und es kommt jemand herunter, um die Tür aufzumachen. Wir sind – wie immer – zu früh, dürfen aber dann doch schon im Wohnzimmer im vierten Stock neben Scelsis Klavier sitzen und in Vorfreude und Gesellschaft von anderen Komponisten warten.
Eine frühere Mitarbeiterin von Scelsi bringt eine Vase mit zwei rosaroten kleinen Winterrosen – von unserer Terrasse (mit Blick auf den Palatin) – sagt sie – und stellt sie zärtlich auf das Klavier. Es ist Giacinto Scelsis (1905-1988) 111. Geburtstag und er hat jedes Jahr an diesem Tag seine Freunde empfangen und mit ihnen den 8. Januar gefeiert.

Die Stimmung ist fast freundschaftlich und man fühlt die Verbundenheit dieses Scelsi- Fanclubs; die freudige Ungeduld auf das vorzüglich zusammen gestellte Konzertprogramm, das der wunderbare Saxophonist Enzo Filippetti präsentieren wird, ist unbezahlbar.
Giacinto Scelsis Tre Pezzi eröffnen. Orientalisch-meditativ, eine Mischung von gestern und heute, die Musik von Scelsi manchmal mit kurzen Jazz-Exkursen versetzt, dann vielleicht wieder Reminiszensen aus seinen früheren Leben, wer weiß das schon. Scelsi hat Tre Pezzi 1956, im selben Jahr, in dem ein anderer Pfeiler der neuen Musik, der vor drei Tagen verstorbene Pierre Boulez, einen aufsehenerregenden Vortrag während der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik mit dem Titel „Alea“ gehalten hat, komponiert. Es ging dabei um Zufallsmusik – Aleatorik.
Scelsi, der aus einer alten italienischen Adelsfamilie stammt und einen ganz langen beeindruckenden Namen trägt (Graf Giacinto Francesco Maria Scelsi d’Ayala Valva) vereinte auf wunderbare Weise Dissonanz, Mikrotonalität, Meditation, Wohlfühlstimmung und Moderne in seinen Kompositionen. Noten aufschreiben lag ihm nicht. Er improvisierte auf dem Klavier das hier neben uns steht (heute mit der Rose von der Terrasse geschmückt) oder auf einem elektronischen Tasteninstrument, der Ondioline, so etwas wie ein Synthesizer. Mit einem Tonbandgerät nahm er diese Improvisationen auf, die er dann später übertragen ließ. Komponieren war anfangs eher ein Hobby, eine Nebenbeschäftigung. Es hat auch lange gedauert, bis seine Musik in die erste Reihe – dort wo sie hingehört – aufgestiegen ist. Es gibt an die 900 Tonbänder im Archiv der Fondazione Isabella Scelsi in eben diesem Räumen, die nun peu à peu angehört und analysiert werden.
Giorgio Nottolis Improvviso dinamico mit live electronics (2010) ist eine wunderbare Hommage an Scelsi. Vielleicht ja ein Geschenk zum 105. Geburtstag. Wenn man zu Augen zu macht hört man mindestens 3 Instrumente. Nottoli (*1945) hat es für Enzo Filippetti geschrieben. Es ist schnell und schneller und voller (verhaltener) Energie und Filippetti kann seine unglaubliche Virtuosität beweisen – das soll sich im Verlauf des Abends aber noch verstärken.
Mauro Cardis (*1944) Zone für Saxophon entstand 2014 und ist ebenfalls für Filippetti geschrieben und eines seiner Lieblingsstücke. Zone heißt auch Enzo, sagte letzterer nach dem Konzert! Auch er hat beim Komponieren an Scelsi gedacht, oder jedenfalls hat es auf mich so gewirkt. Aber genau aus diesem Grund werden diese interessanten Kompositionen ja heute Abend aufgeführt! Eine stimulierende, physische Herausforderung für Filippetti allemal.
Als nächstes ein „work in progress“ von Michelangelo Lupone (*1953). Er ist aus der römischen zeitgenössischen-elektroakustischen Musikszene gar nicht wegzudenken, mehr noch, er hält sie am Leben. Lupone ist Mitbegründer des CRM. Seine Komposition heißt In sordina. Dazu muss sich Filippetti erst mal mit einer sogenannten Windbackvorrichtung, konzipiert und realisiert von Giuseppe Silvi, verkabeln oder besser gesagt verkoppeln. Der kleine, prall gefüllte Raum, stand zeitweise kurz vor dem Bersten und hat hier die Aufgabe, den Schall aufzufangen und zurückzugeben. Die Töne, die Enzo Filipetti aus dem Saxophon holt, werden durch die Windback-Installation in den Raum getragen, prallen an den Wänden und den Zuhörern ab und fließen wieder in das Mikrophon zurück und werden Musik. Man spürt die Vibrationen die durch den Raum schwingen. Lupone holt das komplette Universum und alle Elemente in das Saxophon und Filippetti holt es heraus, was einem Wirbelsturm gleichkommt. Silvi kontrolliert mit seiner Software, um eine eventuell unerwünschte akustische Rückkoppelung zu vermeiden. Ein unglaubliches Erlebnis, auch für den Interpreten, wie er uns später sagte.
Seit der Entstehung dieses Stückes 2011, das Lupone ebenfalls für Filippetti schrieb, unterliegt es einer permanenten Variation. Mit jeder Probe und Aufführung entdecken Komponist und Interpret neue Möglichkeiten, Töne und Sensationen, die Luftkolonnen einzusetzen und arbeiten zu lassen. Lupone hat Windback entworfen und es in den Mittelpunkt seiner Musikforschung am CRM gestellt. Wir kennen schon seine Feed Drums und die diversen Projekte und sind hingerissen, heute hier dabei zu sein. Eine absolute körperliche Herausforderung für beide, aus der der Interpret als Sieger hervorgeht! Filippetti ist so etwas wie ein Hochleistungssportler, der sich die Seele aus dem Leib spielt. In Sordina, d.h. „gedämpft“ – und darüber müssen wir jetzt lange nachdenken – hat Lupone 2011 komponiert und es wurde bis jetzt immer von Filippetti aufgeführt.
Die nächste Komposition stammt von Marcello Panni (*1940). Veni, Creator ist 1968 entstanden und ist Teil eines Werkes „Sieben Übungen zum Spielen und Singen“ (Sette Eserizi da suonare e cantare) für sechs Solisten aus den Tagebüchern des Argonauten. Ursprünglich geschrieben für Klarinette, Tumba, Trompete, Geige, Cello und Kontrabass. Vergleichen können wir nicht, aber es wahr sehr spannend und Filippetti ist einfach unglaublich. Er hat hier das Instrument gespielt und die Melodie – gleichzeitig – gesungen. Wie er das gemacht hat, ist nicht nachvollziehbar.
Das letzte Stück an diesem Abend ist von Giuseppe Silvi, A.Sax mit live electronics (2013). Er hat an diesem Abend zwei Aufgaben, Silvi kontrolliert die von ihm konzipierte Software und präsentiert eine Hommage an Scelsi mit Zitaten anderer Größen wie Stockhausen, Berio und John Cage. Silvi ist auch Saxophonist und hätte eigentlich wissen müssen, sagte Filippetti nach dem Konzert, was er damit dem Solisten abverlange! Auch Silvi arbeitet – mit Lupone – am CRM.
Alle Stücke hatten etwas mit Scelsis Tre pezzi gemein – das war das Geburtstagsgeschenk, bei allen konnte man leichte Orientreferenten ausmachen und manchmal haben sich winzige Jazz-Hommagen eingeschlichen, sind aber nicht lange geblieben und haben gleich wieder der neuen Tönen und Noten Platz gemacht.
Giacinto Scelsi ist 1905 in La Spezia geboren, war Anhänger der Reinkarnationslehre und wurde nach eigenen Angaben bereits im Jahre 2637 v.C. geboren – in Mesopotamien zwischen Euphrat und Tigris. Sein zweites Leben brachte ihn in die Zeit von Alexander dem Großen und Scelsi komponierte einen Teil der Begräbnismusik. Sein privates Leben hielt er eher geheim und es gibt nicht sehr viele Fotos von ihm. Aber wir wissen, dass er als Autodidakt Klavier lernte, in den 20er Jahren nach Paris ging, dort Dandy spielte und später in London eine britische Adelige ehelichte, die ihn aber im Zweiten Weltkrieg verließ. Paul Eluard, Salvador Dali, Michaux waren seine Freunde und 1935 studierte er bei Walter Klein in Wien Zwölftontechnik. Anschließend hielt er sich in Afrika und im Fernen Osten auf. Psychische Krisen brachten ihn in ein Schweizer Sanatorium und zwischen 1947 und 1952 komponierte er überhaupt nicht. Mit seinem Ankommen in Rom 1952 ging auch das Komponieren wieder los. Seine eigenwillige Musik fügte sich nicht in den Trend der Moderne ein und die Welt interessierte sich eher am Rande für ihn, außerdem lebte er zurückgezogen. Seit den 80er Jahren ist er auch in Frankreich und Deutschland in die erste Liga aufgestiegen und wurde in das Repertoire der großen Orchester aufgenommen.
1988 ist Giacinto Scelsi in Rom verstorben. Er hat unglaublich viele junge Komponisten inspiriert und die heute Abend anwesenden Tonsetzer kannten ihn natürlich alle persönlich. Beeindruckt und in Hochstimmung geht es in den ersten Stock – wie schon zu Scelsis Lebzeiten – um mit dem obligatorischen Prosecco auf seinen Geburtstag anzustoßen.
Enzo Filippetti hat seit über 30 Jahren weltweit in der zeitgenössischen Saxophonwelt einen festen Platz. Er ist in Venedig, Salzburg, Paris, Berlin, Madrid, Wien, Mailand und Rom aufgetreten. Über 100 Werke haben unterschiedliche Komponisten für ihn geschrieben. Das ist rekordverdächtig. Aber heute Abend, an Scelsis Geburtstag, hat er sein feinstes, schönstes und liebstes Repertoire vorgetragen. Er gibt ständig vollen Körpereinsatz, auch wenn manchmal « nur » die Tasten bewegt werden und auch das noch Klänge und Töne erzeugt.
Wunderbares kammermusikalisches Hauskonzert! Vier der Komponisten, Giorgio Nottoli, Mauro Cardi, Giuseppe Silvi und Michelangelo Lupone waren persönlich anwesend und wer weiß, vielleicht war Scelsi ja auch anwesend an seinem Geburtstag!
Auguri!
Christa Blenk
Für die Musikfans, die nicht dabei sein konnten, gab es ein live streaming über Radio CEMAT