Abschlußkonzert der Villa Massimo
Alle Jahre wieder in der Vorweihnachtszeit durchbricht das jährliche Abschlußkonzert der Villa Massimo die römische Barockkirchenkonzert-Stimmung und katapultiert das geneigte und geladene Publikum in die aufregende Musik des 21. Jahrhunderts. Dazu reist – auch das ist schon Tradition – das Ensemble Modern nach Rom, und dargeboten wird das Konzert in der Sala Santa Cecilia im Auditorium Parco della Musica.
Die Musikstipendiaten der Villa Massimo, dieses Jahr sind das Saskia Bladt und Vassos Nicolaou, stellen ihre 2015 in Rom entstandenen Kompositionen vor. Flankiert werden diese Welturaufführungen jedes Jahr von Werken großer zeitgenössischer Komponisten, dieses Jahr von Helmut Lachenmann (*1935) und Ennio Morricone (*1928). Und man glaubt es nicht: Alle sind gekommen. Lachenmann saß neben Morricone, hinter ihm Nicola Sani und daneben Luca Lombardi, die beiden Jung-Komponisten unterm Publikum irgendwo. Unter den zahlreichen Zuhörern auf der Bühne und in der Gallerie darüber befanden sich also insgesamt sechs zeitgenössische Komponisten und es gab zwei Welturaufführungen. Das kann so schnell nicht überboten werden! Noten und Klänge durchquerten in alle Richtungen die zu einer Hauskonzert-Klanginsel umgebaute Bühne des großen Saales Santa Cecilia, schon bevor die Musiker die Bühne betraten.
Jeweils 10 Minuten dauerten die beiden Welturaufführungen der Stipendiaten der Villa Massimo. Das Werk von Saskia Bladt (*1981) heißt „Akt“. Akt verbinden wir mit Theater und Aktion und so lässt sie das ausgezeichnete Ensemble Modern nicht nur musizieren, sie lässt es auch schauspielern, husten, pusten, schnaufen, stöhnen und abwechselnd „Ha“ in das Mikrofon hauchen oder schreien. Angeordnet und organisiert – jedenfalls kommt es bei uns so an – setzen sie ihre Instrumente ein, aber keines bringt eigentlich den Ton, den man von ihm erwartet. Atemtraining für den Marathon oder Erstickungs-Angst vor dem großen Auftritt, angeführt vom Kontrabass! Zugänglich und fließend trotzdem diese pirandellesque Suche, die Sian Edwards mit gekonnter und so packender Leichtigkeit durch das Labyrinth der undefinierbaren Töne dirigierte. Vielleicht hat Bladt aber auch etwas anderes beschrieben! Saskia Bladt liebt das Theater, lebt und arbeitet in Frankfurt und hat 2011 einen reduzierten Kinderring für Bayreuth erarbeitet. Für ihre Oper Lilofee wurde sie 2010 mit dem Pfalzpreis für Musik ausgezeichnet.Die Komposition von Vassos Nicolaou heißt „Diffusion“, entstand ebenfalls 2015 in Rom während seines Aufenthaltes bei der Villa Massimo und war die zweite Welturaufführung an diesem gelungenen Abend. Nicolaous Stück ist ernster, inniger und ruft manchmal philosophische Orakelbeschwörungen hervor. Es mutet bisweilen schwermütig-romantisch an und arbeitet auf ein rollendes Finale hin, das dann aber mit einer sehr gelungenen Schlangenbeschwörung durch die Solo-Klarinettistin endet. Nicola Sani hat Nicolaou in seinem interessanten Einführungsvortrag als Mikro-Tonalisten bezeichnet. Nicolaou ist 1971 auf Zypern geboren und lebt und arbeitet in Köln. Er hat u.a. Meisterkurse bei Peter Eötvös absolviert, der auch schon Werke von ihm dirigierte und Lachenmann gehört sicher zu seinen Musikvätern. Nicolaou hat in Köln, Frankfurt und Paris (IRCAM) studiert. Das Ensemble Modern hat schon öfter Werke von ihm aufgeführt. 2005 wurde er mit dem Bernd Alois Zimmermann Preis ausgezeichnet.
Es ist unglaublich wie immer wieder verblüffende, betörende, ungebräuchlich-exotische oder verunsichernd-aufwühlende Töne, die wir noch nicht kannten und die manchmal nicht einmal einem Instrument zugeordnet werden können, gefunden und entfaltet werden.
Ennio Morricone hat das Konzert mit seinem 1989 entstandenen 10-Minuten Stück Specchi eröffnet. Es ist für zwei Klarinetten, Klavier, Fagott und Horn geschrieben und hat nur noch entfernt mit seiner überaus erfolgreichen Filmmusik zu tun, ist leicht und jazzig-kakophon. Morricone hat viel gekämpft, um nicht nur als der Komponist von „Spiel mir das Lied vom Tod“ bekannt zu sein. Auch wegen ihm kam Lachenmann nach Rom. Der strenge und apodiktische Klangarchitekt Lachenmann ist ein großer Fan von Morricones Filmmusik und sah diesen Abend als Gelegenheit, ihn endlich einmal persönlich zu treffen. Es passiert ja nicht jeden Tag, dass sich Lachenmann und Morricone auf demselben Programmzettel wiederfinden.



« Bei den meisten Menschen ist die Ruhe nichts als Erstarrung und die Bewegung nichts als Raserei » (Epikur)
Lachenmanns Komposition Mouvement (-vor der Erstarrung) ist ein komplett durchkonstruiertes Werk, es beginnt mit Stille und ist ein Freischaufeln, ein Aufräumen, in dem Wiederholungsstrukturen in Einzelaktionen übergehen. Mouvement (Bewegung) wird zur Metamorphose und bleibt so mobil. Irgendwann in der Mitte des Stückes hat der Maestro aus Stuttgart eine Mini-hommage an den lieben Augustin eingebaut. Dieses Lied hat einen Wiederauferstehungs- und Entstarrungscharakter; es bezieht sich auf einen Straßenmusikanten in Wien im 17. Jahrhundert, der in einer Pestgrube aufwacht und spielend sterben will, aber gehört und gerettet wird und lange weiterlebt! (Vielleicht kokettieren Komponisten deshalb gerne damit, wie Wranitzky, Hummel oder Schoenberg es taten). Wie auch immer, es ist großartig, entstanden als Auftragswerk des Ensemble Intercontemporain und uraufgeführt mit dem großen Peter Eötvös am Pult in Paris 1984. Was für ein Datum dafür!
Lachenmanns 1983 entstandenes 23-Minuten-Werk Mouvement (-vor der Erstattung), beendete diesen unglaublichen Konzertabend – und das auch noch an Beethovens Geburtstag.
Am Pult dieses Jahr die britische Dirigentin Sian Edwards. Bescheiden und bestimmt-sympathisch ist sie daran gewöhnt, mit den ganz Großen wie dem Cleveland Orchestra, dem l’Orchestre de Paris oder den Wiener Symphoniker zu arbeiten und obwohl sie auch schon Belcanto dirigiert hat, ist sie doch eher auf die Musik des 20. Jahrhundert spezialisiert. Mit dem Ensemble Modern verbindet sie eine beständige Kooperation und das spürt man!
Großartiger Abend!
Christa Blenk