Victoria

Einer für Alle und Alle für Einen: Victoria oder mitgefangen ist mitgehangen
Blau-graues dumpfes und undurchdringbares Nebellicht, noch dumpfere unheilverbreitende Töne die auf den Magen schlagen. Langsam kommt die Kamera näher und Victorias Gesicht schält sich aus diesem Disko-Kessel heraus. Sie tanzt sich die Seele aus dem Leib, geht zur Bar, bestellt einen Schnaps, holt ihre Jacke und geht zu ihrem Fahrrad. Es ist vier Uhr morgens und sie muss um 7.00 Uhr das Cafe aufmachen.
Vor der Disko trifft die junge Spanierin vier Jugendliche mit den seltsamen Namen Sonne, Blinker, Boxer und Fuß, gescheiterte und marginale Ghetto Boys, die vom aktuellen und hippen Berliner Nachtleben ausgeschlossen sind, weil sie kein Geld für den Eintritt haben.
Die junge Spanierin ist neu in der Stadt und einsam. Sie kennt hier niemanden und nimmt die Einladung von Sonne und den anderen an, gemeinsam irgendwo den Geburtstag von Fuß (weiter) zu feiern. Alle haben schon zu viel getrunken. Sie besorgen sich in einem Kreuzberger Späth-Laden („ich werde es morgen bezahlen“, sagt Sonne) mehr Bier und Victoria klaut Nüsse. Gut gelaunt ziehen sie um die Häuser und schlagen ihr Gelage auf dem Dach eines Hochhauses auf. Hier testet sich Victoria zum ersten Mal, in dem sie viel zu nahe an den Rand des Abgrundes geht. Sonne hat Angst um sie. Ihre gemeinsame Sprache ist ein radebrecherisches deutsch-englisches Sprachenwirrwarr. Victoria und Sonne mögen sich sofort und er begleitet sie zu ihrem Bio-Café, das sie in zweieinhalb Stunden aufmachen muss. (Im Aufzug nach unten sagt sie zu Sonne « I am going to break the rules », das hat sie zu diesem Zeitpunkt allerdings nur auf das Redeverbot im Lift bezogen, sie weiß noch nicht, dass sie es eine Stunde später wahr machen wird. ) Im Café steht ein Klavier. Mozart war mein Vorfahre, sagt Sonne, und schlägt drei Töne auf dem Klavier an. Und ich bin einen Tochter von Mozart, erwidert Victoria und während wir noch glauben, dass sie nur auf Sonnes Scherz eingeht, fängt sie mit großer Hingabe an, den Mephisto Walzer zu spielen. Sonne ist tief berührt und merkt, dass es hier etwas gibt, von dem er bis jetzt nichts wusste und wir erfahren, warum Victoria so einsam ist. 16 Jahre lang hat sie jeden Tag 7 Stunden Klavier geübt: alles umsonst, es reicht nicht für eine Karriere. Eine ausgesprochen zärtliche und intime Szene, die die beiden sehr nahe bringt, aber sie können damit irgendwie nicht umgehen. Dann tauchen die anderen auf und Victoria merkt, dass es ein Problem gibt, sie aber nicht versteht welches. Sie willigt ein, den Chauffeur eines gestohlenen Autos (Fuß ist zu betrunken und muss bleiben) zu spielen und sie fahren, angeführt von Boxer, in eine leerstehende Garage. Boxer steht bei Andy, einem ehemaligen Knastkumpel, in der Schuld. Plötzlich verteilt Andy unter Geschrei und Drohungen Waffen und Masken und Victoria kapiert, dass sie mitten in einem Banküberfall steckt. Ich hasse Dich, sagt Sonne in einem Moment zu Boxer, macht aber weiter. Victoria will oder kann sich nicht mehr von ihren neuen Freunden absetzen und fährt – erfolgreich – das Fluchtauto weg beim Tatort. Diese Szene hat etwas dramatisch-slapstickhaftes. Sie feiern ihren Erfolg in der gleichen Disko, in die sie vorher nicht rein durften. Eine kurze durch, Kokain und Erfolg hervorgerufene, Euphorie überkommt sie und wir haben Angst, dass sie aus lauter Dummheit und Unerfahrenheit ihr Geld gleich wieder verlieren. Dem ist nicht so, denn sie werden beim Rausgehen von der Polizei erkannt und fliehen in einen Hinterhof. Boxer und Blinker werden dabei angeschossen und sterben, währen Victoria und Sonne entkommen und in eine Wohnung einbrechen. Nun übernimmt Victoria die Führung und zwingt Sonne, die fremden bunten Kleider anzuziehen. Das Kokain und die Anspannung der vier Personen im Raum ist fast unerträglich geworden, als sie sich das Baby ausleihen, um das von der Polizei umstellte Haus zu verlassen. Dann sind sie für kurze Zeit eine kleine Familie und Sonne nimmt den Kinderwagen mit viel Vorsicht, aber das Glück hält nur Sekunden und gleich geben sie wie versprochen im Haus gegenüber das Baby ab und nehmen sich ein Taxi ins Westin Hotel. Victoria besorgt ein Zimmer in dem Sonne, der ebenfalls angeschossen war, nach kurzer Zeit verblutet. Victoria bricht total zusammen, nimmt aber dann mit ihren blutverschmierten Händen das Geld, verlässt das Hotelzimmer, steigt mechanisch in den Lift ohne auf jemanden zu treffen und verlässt das Hotel. Als sie die Straße entlang geht, versucht sie mit Armbewegungen, das Vergangene oder den Alptraum abzuschütteln und wir können wieder durchatmen.
Victoria hat es nie gelernt wie man Freunde findet, sie ist so einsam in dieser Stadt, dass sie sogar dem Barkeeper einen Drink anbietet. Die Begegnung mit den vier lebenslustigen Freunden, die nur harmlosen Unsinn anstellen, tut ihr gut, sie lebt auf und ist sofort bereit, sich auf das unbekannte und verhängnisvolle Abenteuer einzulassen. Sie holt in diesen drei Stunden von 4.00 Uhr morgens bis zum Sonnenaufgang alles nach, was sie bisher in ihrem Leben verpasst hat. Ihre persönliche Iniziation!
Die Spaniern Laia Costa ist eine Entdeckung, ohne sie wäre der Film ein ganz anderer.
Von Sonne, Blinker, Boxer und Fuß (Frederick Lau, Burak Yigit, Franz Rogowski und Max Mauff), die ebenfalls eine hervorragende performance hinlegen, erfahren wir so gut wie nichts, nur dass sie alle echte Berliner sind und Boxer einmal im Gefängnis war.
Traum und Alptraum liegen genauso nahe beieinander wie Euphorie und Ernüchterung oder Liebe und Gewalt. Der Schneeball wächst und rollt – angetrieben durch Bier- und Kokainexzesse – mit jeder Minute immer schneller auf ein schreckliches Ende zu.
Als Zuschauer ist man am Ende psychisch und physisch ebenso am Ende wie die Protagonisten. Obwohl Sonne, Blinker, Boxer und Fuß alles andere als brave Bürger sind, mögen wir sie. Sie sind eigentlich „good guys“ und geraten durch unglückliche Zufälle in diesem Strudel, der sie unweigerlich nach unten zieht und bei dem keiner auf die Bremse tritt (und wir, Publikum, können nicht).
Das Drehbuch basiert auf nur 12 Seiten, gedreht wurde in einer einzigen Kameraeinstellung. In der Endfassung gibt es keine Schnitte. Für 140 Minuten Spielzeit wurden nur 240 Minuten aufgenommen. Unglaublich. Die stumpf-dröhnende Musik von Nils Frahm tut das Ihrige.
Drehorte waren Berlin-Kreuzberg und Berlin-Mitte und was wir sehen ist fast Realzeit, nämlich die Zeit ab 4:30 Uhr bis zum Sonnenaufgang um 07:00 Uhr morgens.
Sebastian Schipper hat diesen Film auf der 65. Berlinale 2015 vorgestellt. Kameramann Sturla Brandth Grøvlen erhielt den Silbernen Bären dafür. Beim Deutschen Filmpreis 2015 wurde der Film sechs Mal mit einer goldenen Lola ausgezeichnet, u.a. als bester Spielfilm und beste Regie.
Genialer nächtlicher Roadmovie, man beobachtet vollkommen überwältig von dem Schnellball, der immer größer wird und den man nicht aufhalten kann diese dramatische Dynamik. Ein Hin- und Herwackeln (auch der Kamera) zwischen Liebe, Freude, Angst, Vertrauen, Gewalt und Glück. Man spürt den Druck der entsteht und die andauernden und wachsenden schlimmen Vorahnungen lösen ein magengesteuertes Schwindelgefühl aus.
Christa Blenk