Das Bücher-Mädchen mit den tanzenden Milchkannen
Eine Weihnachtsgeschichte (für Kinder)
Vor vielen Jahren gab es im Dorf nur ein paar Familien, die einen Fernseher hatten. Die Kinder hatten keine Videospiele und keine Smartphones und haben sehr viele Bücher gelesen und Radio gehört. Abends spielte man « Mensch ärgere Dich nicht », oder « Dame » oder « Stadt, Land, Fluss », das mochte Anna besonders gerne. Manchmal spielte man auch Versandkatalog und man konnte alles bestellen was man wollte. Das war auch sehr schön. Und ganz oft spielte Anna auch auf dem Akkordeon, vor allem wenn ein Konzert mit dem kleinen Orchester bevorstand.
Dreimal in der Woche ging die 11jährige Anna um vier Uhr nachmittags zum Bauern, um die Milch für sich und ihre Geschwister zu holen. Bis vor kurzem durfte sie die Mutter immer begleitet beim Milchholen, aber nach dem letzten Geburtstag hat die Mutter gesagt „Anna, Du bist jetzt schon ein großes Mädchen, und kannst die Milch alleine holen“. Anna war sehr stolz darauf und Nichts und Niemand hätte ihr dieses Vergnügen nehmen können. Schließlich war sie ja die Älteste von 5 Geschwistern. Seitdem durfte sie auch bein Anzünden der Sternwerfer am Heilig Abend dabei sein.
Auf dem Hinweg zum Bauern waren die grauen Blechmilchkannen leer und sie konnte die Strecke schnell laufen und musste keine Angst haben, etwas von der kostbaren Milch zu verschütten. Auf dem Rückweg waren die Kannen voll und Anna, das durfte die Mutter aber nicht wissen, ließ die Milchkannen tanzen. Sie kreiste den Arm mit der vollen Kanne wie eine Schaukel die sich überschlägt und die Milch in der Kanne stand für 1 winzige Sekunde auf dem Kopf ohne herauszufallen, bis sie gleich wieder unten war und sie den nächsten Arm mit der anderen Kanne kreisen ließ. Sie liebte dieses Spiel und ließ abwechseln die linke und dann wieder die rechte Kanne in den Himmel steigen.
Ab November wurden die Tage immer kürzer und Anna gruselte sich auf dem Rückweg ein wenig, weil sie ja wegen der vollen Kannen nicht Laufen konnte. Manchmal erzählte sich Anna Geschichten oder führte im Geiste Dialoge mit anderen Personen. Aber vor allem dachte sie über seltsame Wörter für das « Stadt – Land – Fluss » –Spiel nach. Der Buchstabe X war besonders schwierig. „Xanten, Xavier, aber ein Land mit X „- sehr schwer. Anna wollte gleich zuhause im Atlas nachsehen, ob es ein Land mit X gab.
Seit dem Sommer durfte sie in der Leihbücherei mithelfen, deshalb ging sie nach der Messe immer über die Straße ins Jugendzentrum, wo der Pfarrer eine kleine Leihbibliothek eingerichtet hatte. Es gab dort Bücher für Erwachsene, Romane aber auch viele Kinderbücher – für Große und Kleine. Anna hatte alle Kinderbücher gelesen, um Auskunft erteilen zu können. Manchmal empfahl sie auch Bücher und fragte die Kinder nach ihrem Alter, um das richtige zu wählen. Sie fühlte sich sehr erwachsen dabei und würde den Pfarrer gerne bitte, neue Bücher zu bestellen, traute sich aber nicht. Anna hatte in den letzten Wochen eine Wunschliste für den Weihnachtsmann, obwohl sie natürlich wusste, dass es ihn nicht gab, zusammengestellt mit neuen Büchern, die immer auf den letzten Seiten der Bücher empfohlen wurden. Am nächsten Sonntag würde sie die Liste, die sie immer bei sich trug, einfach dort liegen lassen. Man kann ja nie wissen!
Am 16. Dezember um vier Uhr nachmittags ging sie auch wieder zum Bauern mit den beiden Milchkannen und schon auf dem Weg dorthin, fing es ganz leise zu rieseln an. Die großen Schneeflocken bedeckten schnell ihre Winterjacke und blieben ganz lang dort liegen. Anna konnte sie wegpusten und dann schwebten sie ein wenig vor ihr her. Anna hatte an diesem Tage ihre Handschuhe vergessen und als die Milch in den schweren Kannen war, wurden ihre Hände ganz steif. „Der Schnee ist genauso weiß wie die Milch“ sagte sie laut zu sich selber, um die Stille zu unterbrechen und schwenkte die Kanne im großen Bogen und mit viel Schwung einmal herum. Wie bei einer Schiffschaukel, die sich überschlägt. Bei der Schiffschaukel wurde ihr immer schlecht und sie fragte die Milch „wird es dir auch nicht übel vom Schaukeln, liebe Milch“, „nein, nein, liebe Anna, mit gefällt das gut“, sagte die Milch und wutsch nochmal herumgeschleudert. Sie folgte mit den Augen der Kanne und sah plötzlich am Himmel etwas vorbeihuschen. War das vielleicht der Weihnachtsmann, „der ist aber früh dran“, sagte Anna zu sich selber und bemerkte nicht, dass die Bücherwunschliste bei dem schnellen Schleudern aus der Jacke gerutscht war. Es schneite immer heftiger und als sie zuhause ankam, war der Boden ganz weiß – so wie die Milch, dachte sie. Anna zog ihre Jacke aus und machte ihre Hausaufgaben. Die Mutter brachte die Milch zum Aufkochen und verwahrte sie dann in der Speisekammer.
Beim Aufwachen am nächsten Morgen lag mindestens 20 cm Schnee und alles war friedlich und weiß, es war Sonntag und Anna freute sich schon auf ihre Arbeit in der Leihbücherei nach der Messe. Plötzlich bemerkte sie, dass ihre Liste weg war und Tränen liefen ihr über das Gesicht. So schnell konnte sie keine neue Liste erstellen und nun würde es zu spät für den Weihnachtsmann werden. Das ist bestimmt die Strafe für das Milchschaukeln, dachte Anna.
Traurig ging sie nach der Messe an ihre Arbeit, trug Bücher aus der Kartei aus und andere ein. „Warum bist Du denn heute so still, Anna“ fragten die Leute. Anna sagte aber nichts.
Dann kamen die Ferien und Weihnachten und Anna und ihre Geschwister freuten sich über die Geschenke und sie vergaß darüber die verloren gegangene Liste. Am Sonntag nach Weihnachten ging sie wieder in ihre Bücherei und fand einen großen Karton auf dem Büchertisch vor. Darauf lag ein Zettel „Für Annas Bücherei“. Ganz schnell und voller Ungeduld riss sie den Karton auf und was fand sie? All die Bücher ihrer Wunschliste lagen da vor ihr. Vor Freude tanzte Anna um den Tisch als der Pfarrer herein kam. „Was ist denn so schön, Anna“. „Der Weihnachtsmann, er hat meinen Zettel gefunden, den ich beim Milchholen verloren habe“. „Dann war er es, den ich gesehen habe »!. Anna nahm langsam jedes Buch aus der Kiste und strich über den brandneuen glänzenden Einband. „Ich werde sie alle heute noch in die Karteikarten eintragen“, sagte sie. Dann kamen die ersten Kinder und drängelten sich um die neuen Bücher. „Wir werden jetzt eine Liste erstellen, wer zuerst dran kommt, damit es keinen Streit gibt“, sagte Anna zu den anderen. Und alle stellten sich in die Reihe bis sie dran kamen.
Draußen rieselte schon wieder der Schnee herunter und die Sonne wollte unbedingt heraus und Anna dachte, dass der Dezember halt doch der schönste Monat im ganzen Jahr wäre!
Text und Fotos: Christa Blenk