Romaeuropa Special – Stockhausen in der Villa Medici
Die dritte Stunde
Karlheinz Stockhausen – Klang
Am 6. Oktober 2013 fand in der Villa Medici in Rom im Rahmen des Romaeuropa Festival die italienische Premiere von « Natürliche Dauern » von Karlheinz Stockhausen (1928-2007) statt. „Natürliche Dauern“ steht für die dritte Stunde seines letzten – unvollendeten – Werkes « Klang – die 24 Stunden des Tages ».
Der italienische Pianist und Komponist Carlo Boccadoro (1963) hat uns auf diesen musikalisch-virtuellen Spaziergang durch die Nacht geschickt und uns aufs Meisterlichste begleitet. Es war ein Flanieren durch eine nicht greifbare klingende obwohl nicht wahrnehmbare Landschaft, mit den entsprechenden Pausen und Unterbrechungen, Hören, Betrachten, Sehen. Und konform zu den durch das Wahrgenommene ausgelösten Gefühlen, geht die Musik.
Vor Beginn des Konzertes gab Carlos Boccadoro dem Publikum eine „carte blanche“ , während der über zwei Stunden dauernden Aufführung ohne Pause den Raum (leise) zu verlassen, in die Cafeteria zu gehen, einen Kaffee (oder etwas anderes) zu trinken, kurz Abzuschalten, wieder reinzukommen (immer lautlos). Ich werde hier weitermachen und bin immer da und freue mich, wenn ihr wieder zurückkommt, sagte er. Das wirkte wie eine Geheimwaffe! kaum erlebt man in Rom ein Konzert mit so wenig Störungen. Kein Husten, kein Rascheln. Das ca 100 Personen-Publikum in der Loggia der Villa Medici war unglaublich.
Es ist die dritte Stunde, 3 Uhr morgens, 2005: Stockhausen befindet sich in seinem Haus im Wald, steht auf und komponiert die Zeit von 3 – 4 Uhr morgens (sicherlich noch dunkel) – nur dauert seine Stunde über 2 Stunden. Die Komposition beginnt mit einem langen hohen Ton, dieser klingt langsam aus – « Natürliche Dauern“ und erst dann kann weiterexperimentiert werden. Wir könnten uns also jetzt einbilden, all das zu hören, was man um drei morgens hört oder nicht hört, wie Stille z.B. Je weiter die dritte Stunde jedoch fortschreitet, desto mehr verliert der Komponist den Respekt vor dieser und es wird dann und wann laut bis wuchtiger. Die Tasten atmen Ein und Aus. Dann schlägt die Uhr irgendwann. Stockhausens Musik ist vor allem ein Konzept! Vogelgezwitscher, eine kurze Triole trotzdem. Wieder auf der Suche nach dem nächsten Ton. Eine kurze Bach-Referenz, später eine Hommage an Wagner und irgendwann (wenn die Fliegen erwachen) noch ein Summen wie bei Rimsky Korsakov – immer nur ganz kurz angedeutet. Wir hören es aber trotzdem. So in der Mitte ungefähr bindet sich der Pianist ein kleines Band mit Glöckchen an die Finger. Der Klang verändert sich und definiert das Ausdauern, er wird zur romantischen Schlittenfahrt und die kleinen Glöckchen geben für eine Weile den Ton und den Takt an. Kurz darauf zieht der Pianist Handschuhe an, um sich bei den kommenden Glissandi nicht zu verletzen, wie der Pianist uns später erzählen wird (das hat Stockhausen auch so gemacht). Ein bisschen Free Jazz und wieder ganz ruhig und viel Ausklingen. Plötzlich ist wohl noch jemand erwacht und leistet ihm Gesellschaft. Wir sind Zeugen eines Dialogs, der wieder in Zen übergeht bis dann die sechs kleinen japanischen Schalen (er hat sie Din genannt und in Kyoto erworben) zum Zuge kommen, die schon seit Beginn des Konzertes neben seinem Klavier stehen. Irgendwann ist die Stunde drei, die 140 Minuten gedauert hat, zu Ende. Unsere Reise auch, plötzliches Erwachen und zurück in die Wirklichkeit. Jetzt würde „Himmelstür“ beginnen.
Tosender Applaus bricht aus und Carlo Boccadoro zeigt uns voller Stolz die von Stockhausen signierte Partitur. Wir, das Publikum, umringen ihn noch mindestens 20 Minuten lang und stellen Fragen über Fragen; einige Tifosi fahren andächtig mit dem Finger über die Signatur auf dem Cover. Ein fantastischer Abend!
Die Gesamtaufführung fand in der von Stockhausen vorgesehenen Form am 8. und 9. Mai 2010 im Rahmen der Musiktriennale Köln statt. Gelegentliche Aufführungen von Auszügen und einzelnen Stunden, gab es allerdings schon vorher.
Hier seien noch kurz die schön klingenden Namen der anderen Stunden erwähnt: Himmelfahrt, Freude, Natürliche Dauern, Himmesltür, Harmonien, Schönheit, Balance, Glück, Hoffnung, Glanz, Treue, Erwachen, Cosmic Pulses, Havona, Orvonton, Uversa, Nebadon, Jerusem, Urantia, Edentia, Paradies.
Paradoxerweise hört seine Komposition mit Paradis auf – der Tod kam dazwischen und Stockhausen konnte die letzten drei Stunden nicht mehr vollenden. Komponiert hat er Natürliche Dauern zwischen 2005 und 2006. Es ist mit 140 Minuten die längste Stunde von Klang. Das Atmen des Pianisten ist in der Partitur festgehalten wie auch die Betätigung des Pedals. Stockhausen wollte so „Melodien, Harmonien und mehrstimmige Momente als Ergebnisse der natürlichen Dauern“ sichtbar machen.
Christa Blenk
Fotos: Christa Blenk
Illustration: Guillermo Lledó