Moses vor den Ketten
Der Moses von Michelangelo in der Kirche San Pietro in Vincoli
Sitzend, den Rumpf leicht nach vorne gebeugt, glänzend seine nackten muskulösen Arme, blickt er mit seinem prophetisch-stattlichen Bart in unsere Richtung.
Moses, überlebensgroß, mit den Gesetzestafeln unterm Arm gerade vom Berg Sinai kommend, überrascht er sein Volk, wie es rituell um das Goldene Kalb tanzt. Sein linker Fuß ist zurückgesetzt und nur die Zehen berühren den Boden, ist er etwa kurz vorm Aufspringen oder ist er gerade dabei, sich zu setzen. Leicht eingeklemmt unter seinem rechten Arm, liegen die Tafeln, sie verrutschen vor unseren Augen. Eigentlich hält er sowieso mehr den Bart als die Gesetze in Stein, der Resignation verfallen, beim Anblick seines ungläubigen götzenanbetenden Volkes.
Das ist unser erster Eindruck des Moses wenn man nach dem Aufstieg atemlos an der steilen Treppe oberhalb vom Corso Cavour ankommt und den Platz nach links überquert, um dann vom Halbdunkel der Kirche verschluckt zu werden. Im rechten Querschiff steht man nach ein paar Schritten vor diesem fantastischen und erschütternden Abbild.
Der linke Arm liegt angewinkelt in seinem Schoß. Er hört wohl den Lärm und das Geschrei der sich amüsierenden frevelnden Tänzer bei der Verehrung des goldenen Wiederkäuers. Die beiden Hörner auf seinem Haupt geben ihm etwas animalisch-fabelhaftes. Was hat es mit den Hörnern auf sich?
Aufgrund eines Übersetzungsfehlers der lateinischen Vulgata, „quod cornuta esset facies sua“, wurden aus den leuchtenden Antlitz zwei Hörner, da das hebräische Wort „karan“ bzw. « keran » („krn“ – die hebräische Sprache schreibt keine Vokale) sowohl „Horn“ wie auch « Ausstrahlung » heißen kann. Dieser Fehler hat sich jahrhundertelang gehalten.
(II. B. Kap. 32.) »7. Der Herr sprach aber zu Mose: Gehe, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Aegyptenland geführt hast, hat’s verderbt. 8. Sie sind schnell von dem Wege getreten, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossen Kalb gemacht, und haben’s angebetet, und ihm geopfert, und gesagt: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Aegyptenland geführt haben. 9. Und der Herr sprach zu Mose: Ich sehe, daß es ein halsstarrig Volk ist. 10. Und nun laß mich, daß mein Zorn über sie ergrimme, und sie vertilge; so will ich dich zum großen Volk machen. 11. Mose aber flehte vor dem Herrn, seinem Gott und sprach: Ach, Herr, warum will dein Zorn ergrimmen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand hast aus Aegyptenland geführt?…
Das Tuch auf seinen Beinen lässt darauf schließen, dass es sein zweiter Abstieg war. Ein Tuch, dass der leuchtende und das Volk blendende Moses bei Ansprachen an das Volk vor sein Gesicht hält, um das Volk nicht zu blenden. Im Dialog mit Gott, legt er die Bedeckung auf seinen Schoß. In einem Anfall von Zorn wollte er aufspringen und sich rächen, hat aber der Versuchung widerstanden. Nun sitzt er hier, wutgezähmt aber mit Verachtung im Gesicht.
Allerdings gibt es so viele unterschiedliche Beschreibungen wie es Texte gibt, vor allem die Art und Weise wie er unter oder in seinen Bart greift und ob das Buch fällt oder nicht, blickt er zornig, schmerzhaft, gütig, wütend, verachtend auf die götzenanbetenden Juden, wird sehr differierend wiedergegeben. Vasari, Goethe, Sigmund Freud, Carl Justi, Henry Thode, Jakob Burkhardt, Hermann Grimm, Heath Wilson und wie sie alle heissen die großen Betrachter und Kunsthistoriker der letzten Jahrhunderte vor allem aber des 19. Jahrhunderts, interpretieren schon aus Prinzip jede Geste verschieden. Bis hin zu blitzenden Augen hat man ihm attestiert!
Hat sich der größte Bildhauer aller Zeiten wirklich so missverständlich ausgedrückt, dass so viele gegensätzlichen Interpretationen möglich sind? Ist dieses Standbild deshalb zu faszienierend, weil es so viele Rätsel aufgibt?.
Der von allen Zeitgenossen geschätzte Künstlerbiograph und Maler Giorgio Vasari schreibt 1568 über den Moses: „Als Michelangelo den Moses vollendet hatte, gab es kein Werk zu sehen, ob antik oder modern, das daneben bestehen konnte.“
Damit ist auch eigentlich schon alles gesagt.
Der italienbereisende Gothe hat 1830 über ihn gesagt: „Diesen Heroen kann ich mir nicht anders als sitzend denken. Wahrscheinlich hat die überkräftige Statue des Michelangelo am Grabe Julius es Zweiten sich meiner Einbildungskraft dergestalt bemächtigt, dass ich nicht davon loskommen kann.“
Und so geht es weiter, niemand kommt an ihm vorbei, jeder gibt seine Meinung ab.
Auch Sigmund Freud hat sich intensiv mit der Statue befasst. 1914, nach dem Konflikt mit seinem häretischen Schüler C.G. Jung, veröffentlichte er – erstmal anonym – eine Abhandlung, in der er sich wohl kurzfristig mit Moses identifizierte. Er schreibt, dass die Dynamik in dem Bildwerk aus Carrara Marmor sich aus einem Bewegungsablauf ergäbe. Moses erhebe sich beim Tanz um das goldene Kalb um seine Stimme und Hand anzuheben, dabei drohen die Gesetzestafel einer anderen Hand zu entgleiten. In der Bewegung des Erhebens gehe die Bewegung wieder zurück zu einer Sitzbewegung, denn Moses versuche – wie jeder Mensch in solcher einer Situaiton – die Tafels wieder in Griff zu bekommen. Diese Bewegung ist bei Freud in Skizzenform dargestellt. Die Bewegung ist gewissermaßen im Marmor eingefroren.
Aber es gibt auch andere Stimmen, die seine brutale Gestalt und den tierartigen Kopf kritisierten, ein britischer Rom-Besucher veröffentliche sogar im Quarterly Review 1858: »There is an absence of meaning in the general conception, which precludes the idea of a self-sufficing whole …«
Auf dem Esquilin-Hügel steht die Kirche San Pietro in Vincoli. Die Ketten, die der Kirche den Namen geben, sind in einem Glasbehälter aufbewahrt, der unter dem Altar liegt. Pilger kommen ihretwegen, weil Petrus in ihnen gefangen lag, bis zur wunderbaren Befreiung in Jerusalem oder weil es auch diejenigen sind, in denen er im Mamertinischen Kerker, ein antikes Gefängnis aus dem 3. Jahrhundert im Forum Romanunm in Rom, gefangen war. Jedenfalls kamen sie auf mysteriöse Weise, man sagt mit der Kaiserin Aelia Eudocia, die sie bei einer Wallfahrt geschenkt bekommen hätte, nach Rom. Dort wurden sie von Papst Leo I mit den römischen mamertinischen Ketten verglichen und oh Wunder, sie passten zusammen. Somit liess Eudoxia an dieser Stelle diese Kirche errichten.
Im 16. Jahrhundert beauftragte Papst Julius II Michelangelo sein Grabmal zu errichten – geplant war es als megalomanischen Projekt. 40 riesige Marmor-Figuren solltenals als Allegorien der Künste und Wissenschaften augestellt werden. Michelangelo verließ aber Rom und als er 1508 zurückkehrte malte er erstmals die Deckenfresten der Sixtinischen Kapelle. Erst al 1514 Papst Julius II starb, kehrte er zum Grabmal zurück und es entstanden der Gefesselte Sklave, der Sterbende Sklave und Moses, sicherlich eines der wichtigsten Werke Michelangelos. Er bewacht nun die Ketten.
Aber ganz egal ob er wütend oder resigniert auf uns blickt, gerade aufspringen will oder in Ruhe an seine Botschaft denkt, der Moses ist genial und allein durch das Betrachten dieses weißen kalten und glänzenden Marmors wird unsere Phantasie freigeschaltet.
Christa Blenk
Fotos:©christa blenk